Globale Anarchie

Grisham trifft Born: Peter Hennings Roman „Linda und die Flugzeuge

VON CHRISTIAN FÖRSCH

„Ich hatte so ein Ding noch nie aus der Nähe gesehen, und zu meinem Erstaunen war es überraschend leicht, samt Koffer sicher keine drei Kilo schwer. Von kleinen Lederschlaufen und Klammern gehalten, lagen die Einzelteile, der Lauf, das Gehäuse, die Abzugvorrichtung … in ihrer Form nachempfundenen Vertiefungen des mit rötlichem Samt ausgeschlagenen Kastens.“

Diese Worte stammen von Jan Berger, dem Protagonisten von Peter Hennings neuestem Roman „Linda und die Flugzeuge“. Sie bezeichnen gut Hennings Schreiben, das so leicht ist wie ein Präzisionsgewehr in seinem Futteral. Hennings Bücher sind kurz, luftig gesetzt, ihr Erzählton ist im Laufe der Jahre unbeschwerter, umgangssprachlicher, unprätentiöser geworden. Als hinge man am Tresen einer Kneipe mit einem Kumpel, der zwischen zwei Bieren anhebt: „Weißt du, was mir letzte Woche passiert ist?“

Doch der Eindruck trügt. Die Geschichte von Jan Berger, einem erfolgreichen Hamburger Journalisten, der „seinen gut bezahlten Job wegwarf, um in der kalifornischen Wüste […] Spinner aus aller Herren Länder in einem Jeep herumzukutschieren“, ist ein souverän komponiertes Erzählgebilde. Berger sitzt in Mojave fest, auf einem Flugzeugfriedhof, wo er Linda kennen lernt. Linda ist eine junge Planespotterin, die ihr Leben der Beobachtung von Flugzeugen geweiht hat. Sie reist über den Globus, um Start- und Landezeiten aufzuzeichnen und seltene Baureihen aufzuspüren. Berger ist von dieser religiösen Hingabe beeindruckt und entdeckt, dass Linda keine einsame Irre, sondern „Mitglied“ einer internationalen Gemeinde ist. Berger verbringt mit Linda eine Nacht, verliebt sich, doch am nächsten Morgen ist sie verschwunden. Er verfolgt das Mädchen nach Singapur, wo die Spotter eine spektakuläre Aktion planen und an einen Freund erinnern wollen, dem die unschuldige Begeisterung für Flugzeuge zum Verhängnis wurde. Obwohl Berger Lindas Clique nicht leiden kann, lässt er sich für die Aktion einspannen, genießt das Gefühl, endlich nicht mehr nur mit dem Kugelschreiber neben dem Leben zu stehen. Als er jedoch merkt, dass es bei der Aktion nicht allein um hausbackene Transparente und freundschaftliche Gefühle geht, ist es zu spät – er kann nur noch seine eigene Haut retten.

Peter Henning erzählt den Terrorakt ganz nebenher, ohne lustvoll das Spektakel auszukosten. In dem Geflecht aus reduzierten Szenen, Flashbacks und Nebenhandlungen dient ihm das Genre des Thrillers als Mittel zum Zweck. Eindringlich wirken vor allem die Nebenschauplätze, etwa die reduzierten Episoden aus der Kindheit: die brennenden Airfix-Flugzeuge, die der Junge vom Balkon trudeln lässt, eine Nacht auf dem einsamen Dachboden, wo er sich aus Angst vor Strafe geflüchtet hat.

„Linda und die Flugzeuge“ ist ein Selbstfindungsbuch, das sich als eine Art Räuberpistole entpuppt. Zwar hatte Henning schon immer eine Vorliebe für bizarre Roadmovies, für Aussteiger- und todessehnsüchtige Liebesgeschichten. Diesmal aber gerät der Henning-typische Protagonist in die schier übermächtige Mechanik eines anderen Genres. Dass die Erzählperspektive dabei in der Hauptfigur verharrt, erzeugt einen besonderen Sog, ist „realistisch“ im besten Sinn, denn der Einzelne, so gebildet und bewandert er sein mag, steht dem Chaos der globalen Gewalt genauso ohnmächtig gegenüber wie die „alteuropäischen“ Erzählmodelle der amerikanischen Genreliteratur. Hennings Buch beschreibt das Ende einer Kultur, einer Weltordnung: An die Stelle der großen ideologischen Blöcke, des behäbigen geistigen Heimatgefühls, ist eine globale Anarchie getreten. An die Stelle der Nationalkriege die Privatfehden, die Cliquen- und Bandenkriege, an die Stelle der großen Utopien die aberwitzige Privatreligionen.

Am Ende behält allerdings der „Poet“ Henning die Oberhand. Nach überstandenem Abenteuer sitzt Berger im Taxi, vor seinem Haus. Er betrachtet seinen Balkon, scheint seine Frau, sein bürgerliches Heil wiedergefunden zu haben. „Lilian hatte den Wäscheständer hinausgeschoben, um ihre Nylonstrümpfe an der Luft zu trocknen. […] Je länger ich ihre im Wind flatternden Strümpfe anstarrte […], desto weniger sah ich mich imstande, aus dem Taxi auszusteigen und hineinzugehen.“

Jan Berger ist durch eine Welt getappt, in der man weder der Bibel noch der „Tagesschau“ und schon gar nicht dem eigenen Verstand trauen kann. Es bleibt nur der Instinkt, ein Gefühl im Bauch, vielleicht so etwas wie Gewissen. Erzählen will Henning die mutige Entscheidung eines Menschen. Vielleicht ist dessen Traum vom Glück, „in der Wüste zu sitzen und Johnny Red zu trinken“, genauso banal wie sein bisheriges Leben. Aber um das zu erfahren, muss man das Experiment gewagt haben. Peter Hennings Erzählexperiment, „John Grisham für die Sache eines Nicolas Born einzuspannen“, ist jedenfalls außerordentlich gut gelungen.

Peter Henning: „Linda und die Flugzeuge“. FVA, Frankfurt 2004, 156 Seiten, 15,90 Euro