Stadtschnüffler

Außer der antifaschistisch motivierten Bowlingcenter-Forschung gibt es auch noch eine gleichsam interessenlose Stadtforschung, die deswegen jedoch nicht weniger engagiert sein muss – z. B. die der Europäischen Ethnologen an der Humboldt-Uni Berlin. So ist etwa „Die Entdeckung der Stadtkultur. Soziologie aus der Erfahrung der Reportage“, die Arbeit von Rolf Lindner über die Pioniere der Chicagoer School of Sociology um Robert E. Parks, geradezu von einer fanhaften Begeisterung getragen.

Lindner vertritt die Meinung, dass die Ethnografie mit Formen der Besessenheit zu vergleichen sei – in ihrem Interesse am ganz Anderen, sei es ein Zockerclub am Stadtrand oder ein Boxverein in einem Schwarzenviertel. Zunächst wurde diese US-Aktionssoziologie nur von der Kölner Schule um René König diskutiert. Aber über Pierre Bourdieu und den schon fast antisoziologischen Urbanismus stoßen die Chicagoer Forschungen nun auch hier auf Begeisterung. Gerade wurde zum Beispiel die Studie des Boxers und Herausgebers der Zeitschrift Ethnography, Loic Wacquant, „Ein „Leben für den Ring. Boxen im amerikanischen Ghetto“, auf Deutsch veröffentlicht.

Am Lehrstuhl von Lindner entstanden u. a. eine Studie mit Portraits der hiesigen Migrantenszenen („Durch Europa. In Berlin“) sowie eine Untersuchung des „Mythos Kreuzberg“. Im Vorwort zum Migrantenbuch schreibt Lindner: „Die Zusammensetzung unserer Projektgruppe spiegelt in gewisser Weise unser Thema: Zeitweise stammten die Teilnehmer/innen aus sechs europäischen Ländern. Das zeigt, dass auch die Universität nicht von den Prozessen ausgenommen ist, die sie beschreibt und analysiert.“ Umgekehrt fangen u. a. immer mehr ausländische Prostituierte an, beispielsweise über ihre Erfahrungen mit akademischen Freiern zu schreiben. Aus einem HUB-Seminar über den frühen Erforscher des Londoner Mob (der mobile people), Henry Mayhew, entstand sodann im Lindner-Selbstverlag eine Reihe mit übersetzten Klassikertexten. Jetzt ist von Lindner noch „Eine Geschichte der Stadtforschung“ veröffentlicht worden: „Walks on the Wild Side“.

Sich als Wissenschaftler nicht den fremden Wilden in den Kolonien, sondern den eigenen, nebenan, zu widmen, hatte zunächst sozialhygienische Gründe: Die Angst des Bürgertums vor den ansteckenden Krankheiten der Armen. Dazu kam bald noch die Angst vor deren antibürgerlichem Furor. Die daraus resultierenden Forschungsprojekte, die Lindner in seinem Buch vorstellt, stammen sämtlich aus Großbritanien und den USA, bis auf eine Studie über das Arbeiterviertel Berlin-017 (Friedrichshain), die Friedrich Siegmund-Schultze 1925 initiierte. Er hatte zunächst ebenfalls im Londoner Osten geübt, wo er sich folgende Beobachtung über einen Betrunkenen notierte: „Eine johlende Gruppe von boys empfängt ihn und heult hinter ihm her. Er greift nach den girls, die neben ihm herlaufen.“

Rolf Lindner hat die Akten der bis 1933 existierenden „Sozialen Arbeitsgemeinschaft Berlin Ost“ von Siegmund-Schultze studiert – und ist dabei auf einige Kneipenrecherchen gestoßen. Inzwischen geraten aber auch schon die vornehmen Lokale ins Visier der Forscher: So schreibt z. B. eine FU-Studentin gerade eine Diplomarbeit über „Gespräche am Nebentisch“ – im Borchardts, wo mittags Stern-, FAZ- und Zeit-Herausgeber sowie Hellmuth Karasek nebst Wolfgang Joop sitzen. Und in Kreuzberg geht ein typischer Dialog an einer postautonomen Kneipentheke bereits so: „Machen wir noch eine Bierforschung oder eine Nachhausegehforschung?“ „Ich muss jetzt erst mal ’ne Dönerforschung machen!“ HELMUT HÖGE