Hüter des Zeitlochs

Die Gegenwart schien wie der Moment, wenn sich die Hände beim Sandburgentunnel-Bauen dann treffen.Gedanken in der leeren Wohnung verreister Freunde – an Sommertagen, die endlich einmal „Hallo“ sagen

Plötzlich war Sommer, also richtig Sommer, so als Geruch und unausgeschlafenes Glücksgefühl gegen Mittag, das die eigene Unordnung, in der man sich ansonsten verwirrt, verwandelte in eine Reihe von Glücksmöglichkeiten. Die CD – „The world of Arthur Russel“ –, die auf dem Boden lag, sagte nicht mehr: Steck mich endlich in die Hülle, sondern: Leg mich auf, klasse Musik, „Let’s go swimming“!; die angefangenen Bücher, die Zeitungen auf dem Boden sprachen nicht mehr beleidigt davon, dass man sie irgendwann nur halb gelesen hatte, sondern deuteten auf den Spaß, den es machen würde, sie zu lesen; das hellblaue Polohemd erwachte aus seinem Dämmerzustand; der Sonnentag war gleichzeitig heiß und angenehm kühl im Wind, der die Vorhänge so leicht und schön bewegte. Die Zeit dehnte und reckte sich.

Ein bisschen wehmütig war einem zumute, als die Freunde wegfuhren und winkten; der kleine Junge in der Kita hinter dem „Tresor“ hatte gesagt: „Wir fahren erst nach Cornwall und dann nach England“, und es war seltsam, nun für ein paar Stunden in ihrer leeren Wohnung zu sein, um Blumen zu gießen, den Briefkasten zu leeren und Wäsche zu waschen, denn der Waschsalon am Mehringdamm ist ja bekanntlich nicht mehr.

Die leere Wohnung der Freunde war in ein Zeitloch gefallen. Gefroren war der Augenblick, in dem sie ein wenig hastig, wie immer, wenn man wegfährt, aufgebrochen waren. Man meinte, noch die Stimmen der Eltern zu hören, wie sie ihre Jungs ermahnten, sich doch zu beeilen. Ein Bügel lag neben zwei leeren Plastiktaschen auf dem Boden, eine halb leere Mineralwasserflasche stand auf dem Tisch. Ich dachte: Man ist ja auch so aufgewachsen, dass man denkt, Mineralwasser mit viel Kohlensäure, sei viel besser, weil mehr und natriumarm müsse viel billiger sein als natriumreich.

Alles, was hier war, hatte sich vor fünf Tagen zuletzt bewegt und schlief seitdem; man fühlt sich, als sei man in einem Foto zu Besuch. Ich dachte an den letzten Abend am Ufer. Zwei bekiffte Bongospieler hatten da gesessen. Einer hatte ein Kreuzberg-T-Shirt getragen und einer Frau, die ständig mit ihrer Cam herumfilmte, erklärt, dass er aus Rüdesheim komme. Zuvor war die junge Frau mit ihrer Freundin an mir vorbeigegangen. Die eine hatte gesagt: „Dididididi“, die andere hatte geantwortet: „Dubdidu.“ Wirklich. Oder ähnlich, also völliger Unsinn.

Sie hatten dann zusammengesessen und der Bongospieler hatte mit komischen Sinnsprüchen wie „Wer baut, der haut“ posiert. Er war sicher oldschool, und die Abenddämmerung über dem Landwehrkanal hatte ausgesehen wie auf einer verkitschten Sonnenuntergangspostkarte. Viele lieben es, in Postkartenmotiven herumzusitzen, nur ist man selbst ja oft nicht dabei, wenn man’s fotografiert, und man fühlt sich, als säße man zwischen zwei Bildern; dem, das man sieht, und dem, das die rote Sonne sieht, wenn sie einen so anschaut.

Als ich das Fenster in der Wohnung meiner Freunde aufmachte, wehte etwas Gegenwart hinein. Die Gegenwart schien wie der Moment, wenn sich die Hände beim Sandburgentunnelbau dann treffen: „Guten Tag!“ Die kleine Anlage sagte „Welcome“, als ich sie anmachte und „Goodbye“, als ich sie ausmachte und die Wohnung wieder verließ.

DETLEF KUHLBRODT