speichenbruch
: Auf einmal ist alles ganz anders

Der Profi-Radsport wird zunehmend von jüngeren Teamchefs bestimmt, die mit modernen Methoden und Philosophien Erfolge feiern

Giancarlo Ferretti versteht die Welt nicht mehr. Der 62 Jahre alte Chef von Fassa Bortolo gehört seit 40 Jahren zum Profi-Zirkus – seit 1975 als Sportlicher Leiter. Ferretti weiß, wie die Dinge laufen im Radsport – jedenfalls dachte er das bis vor kurzem. Doch seit ein paar Jahren hat er lauter junge Kollegen um sich herum, die alles anders machen.

Sie legen Wert auf Psychologie, sie setzen moderne Trainingsmethodik ein. Sie lassen sich bei der taktischen Renngestaltung von der Vernunft leiten anstatt vom Bauch, und sie planen langfristig. Manchmal glaubt Ferretti, seinen Sport nicht mehr wiederzuerkennen. „Ich höre, dass manche Kollegen die Pulswerte ihrer Fahrer aus dem Mannschaftswagen kontrollieren. Das kann doch nur dazu dienen, ihre Intelligenz einzuschläfern.“

Doch Ferretti wird nicht umhin kommen, sich mit den Veränderungen in seinem Sport abzufinden. Die diesjährige Tour wurde durchweg von seinen jungen Kollegen bestimmt: von Bjarne Riis, dem Chef von CSC, der Mannschaft von Ivan Basso und Jens Voigt, von Jean René Bernaudeau, dem Leiter der Mannschaft Brioches La Boulangère mit Thomas Voeckler, und natürlich vor allem von Johan Bruyneel, dem Chef von Armstrongs Mannschaft US Postal.

Als Bruyneel 1998 mit 34 Jahren das Team US Postal übernahm, steckte er voller Ideen. „Ich habe mir während meiner gesamten Karriere überlegt, wie man eine Tour de France richtig vorbereiten sollte“, sagt er. Die Chance bekam er, als Lance Armstrong ihn an Bord holte. Zu Bruyneels Neuerungen gehörte eine kompromisslose Ausrichtung des Teams auf die Tour. Es gehörte eine Mannschaft dazu, die aufeinander eingeschworen ist. Und es gehörte Detailversessenheit dazu – nichts wurde dem Zufall überlassen. Etappen schon im Frühjahr auszukundschaften, war vor Bruyneel undenkbar. Seither machen es immer mehr Tour-Mannschaften, in diesem Jahr sogar erstmals T-Mobile.

Bjarne Riis ist ähnlich detailversessen wie Bruyneel. Riis gestaltet die Rennmaschinen seiner Fahrer selbst, er wertet die Computeraufzeichnungen jeder Trainingsfahrt persönlich aus, und wenn es sein muss, massiert auch noch selbst. Wie bei Bruyneel steht der Teamgedanke im Vordergrund, weniger jedoch als Mannschaft, die auf einen Führer fixiert ist. Riis’ Team ist demokratisch – gegenseitiges Vertrauen und Altruismus sind bei ihm beinahe Religion.

Der demokratische Gedanke ist nach Ansicht von Hans Michael Holczer, Chef beim Team Gerolsteiner, das, was vor allen Dingen eine moderne Mannschaft auszeichnet: „Die klassische Struktur ist hierarchisch und kapitänsbezogen.“ Er, Holczer, hingegen übertrage seinen Fahrern ein Maximum an Eigenverantwortung, appelliere an ihre Vernunft und greife selbst nur regulierend ein. Eine solche moderne Struktur, so Holczer, weisen neben seinem Team Gerolsteiner und der Riis-Mannschaft CSC vor allem das Schweizer Team Phonak und die junge Truppe Brioches la Boulangère auf. „Deshalb rennen uns die Fahrer ja auch die Tür ein“, sagt Holczer.

US Postal mit Armstrong an der Spitze ist hingegen hierarchisch. Von traditionellen Mannschaften unterscheidet sie sich aber durch ihre Innovationsfreude: Entscheidend für die Modernität einer Mannschaft, so Bruyneel, sei es, dass sie eine Idee, ein Programm habe. Und vor allem, dass die Fahrer daran glauben. Darin bestehe der Unterschied zwischen den neuen Teams wie seinem und den alten.

Das Team T-Mobile sitzt beim Generationswechsel im Radsport ein wenig zwischen den Stühlen. Der junge Sportdirektor Mario Kummer arbeitet mit modernen Trainingsmethoden und taktischen Mitteln. Auch Manager Walter Godefroot, ein Generationsgenosse von Ferretti, ist durchaus aufgeschlossen. Die Detailversessenheit eines Riis’ oder eines Bruyneels scheint Godefroot bisweilen jedoch etwas zu weit zu gehen. Während beispielsweise CSC schon im Januar für das Mannschaftszeitfahren übt und Riis mit dem Fahrradausrüster an technischen Details arbeitet, sagt Godefroot, „was soll ich schon im Januar Zeitfahren trainieren, wenn ich da die Mannschaftsaufstellung noch nicht kenne“. Bei CSC und Postal steht die Tour-Truppe weitestgehend schon im Herbst des Vorjahrs fest. Bei T-Mobile wird erst drei Wochen vor der Tour über das Team entschieden. Schließlich war das früher auch nicht anders. SEBASTIAN MOLL