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: HELMUT HÖGE über Klassentreffen

Verbrannte Schiffe

Neulich lud mich eine alte Klassenkameradin aus Bremen telefonisch zu einem Treffen des Abschlussjahrgangs 1966 ein, und ein Cousin in Frankreich, den ich 30 Jahre lang nicht gesehen habe, schickte mir eine sentimentale Melde-dich-doch-mal-Botschaft per Post. Bei beiden wunderte ich mich erst einmal über ihre Hartnäckigkeit, mit der sie wochenlang meine Adresse recherchiert hatten.

In der taz muss ich immer mal wieder Briefe aufschlitzen, in denen alte Leute einfach die Redakteure um Hilfe bitten – bei der Suche nach ihren Mitwaisen aus einem englischen Kinderheim etwa, wohin man sie 1945 geschickt hatte. Die meisten Anfragen werden zum Suchdienst nach Arolsen weitergeleitet.

Vor einigen Jahren wurde bereits das New Yorker Jungfilmer-Festival komplett mit so genannten „Roots-Filmen“ überschwemmt: Jeder hatte irgendeine ungarische Großmutter oder slowenische Tante aufgetan, der er sogleich vor der Kamera Sippengeschichten entlockte. Zu ihrer eigenen wussten die angehenden Regisseure nur zu sagen, wie schwierig und aufwändig es gewesen war, diese oder jene Familienangehörige überhaupt zu finden. Bei den meisten hatte sich jedoch der ganze Aufwand nicht gelohnt.

Auch in meinem Fall nicht, denn mir war nicht nach Klassentreffen oder Neffenkontakt zumute. In unserer Sippe hat zudem das Wort Familienbande noch seine ursprünglich verbrecherische Konnotation behalten, weswegen wir eher Wahlverwandtschaften anstreben. Und sowieso ist mir die Wurzelforschung verhasst, lieber verbrenne ich gerne alle Schiffe hinter mir, wie man im familienversessenen China zu sagen pflegt.

Der österreichische Kommunikationsforscher Eric Hoerl schickte mir dazu nun aber eine geharnischte, zugleich aber auch schon fast verzweifelte Kulturkritik, die darauf hinausläuft, dass eine solche Luftwurzelhaltung noch Teil des allgemeinen und verheerenden „Rangierens am Abgrund“ ist, der postmarxistisch den Blick vom beschädigten Leben abgewendet hat.

Aber auch die Rootsforscher und Veteranentreffenorganisierer kriegen ihr Fett ab, denn deren Denken geriet inzwischen über den französisch-kulturwissenschaftlichen Zugriff auf „unsere permanente Gewordenheit“ vollends zu einem „leeren Reflexionsstil“. „Ein Denken, wie es für Adorno ‚im Angesicht der Verzweiflung einzig noch zu verantworten‘ war, nämlich ‚alle Dinge so zu betrachten, wie sie vom Standpunkt der Erlösung sich darstellen‘, kennen wir nur noch vom Hörensagen … Dergestalt wächst uns die Zeit selber über den Kopf“.

Laut Hoerl befinden wir uns bereits in einem „totalen analytischen Notstand … Die Mannigfaltigkeit der alltäglichen Niedertracht verliert sich in anonymen Machtströmen, heillos sind wir eingebettet in deren Immanenz!“ Am Schluss fragt er sich und uns: „Hat diese Wirklichkeit des verzerrten Lebens eigentlich irgendwelche Grenzen?“

Ich frug mich dagegen: Wie könnten sich denn die Dinge vom Standpunkt der Erlösung aus darstellen? Und was ist das überhaupt – Erlösung? Meint er das, was im Englischen die „Politics of Redemption“ (Erlösung) genannt wird, also die traditionelle kommunistische Politik, die davon ausgeht, dass die Befreiung aller die notwendige Voraussetzung für die Befreiung jedes Einzelnen ist, wie es Engels einst formulierte?

Der dabei auf den Einzelnen gerichtete Blick hätte dann dessen Bemühungen zur Überwindung der Vereinzelung wahrzunehmen – und zwar unter dem anarchistischem Gesichtspunkt, dass der Mensch an sich durchaus gutwillig ist: „An der ganzen Politik interessiert mich nur ein Aspekt – die Revolte“, so sagte es Baudelaire oder Rimbaud oder Verlaine … Man könnte auch sagen, von der ganzen Erlösung aus interessiert nur das Wie – nicht Wer.