das fahrrad. ein problem von JÜRGEN ROTH
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Vor knapp eineinhalb Jahren habe ich mein Fahrrad zu einem Fahrradhändler gebracht. „Karl“, hatte ich zum Fahrradhändler aus der Nachbarschaft beim Feierabendbier in der Kneipe gesagt, „ich bring’ dir morgen mal mein Fahrrad vorbei. Generalüberholung und so. Das Frühjahr steht ja bald vor der Tür.“ – „Klar“, hatte Karl geantwortet, „bring’s vorbei.“

Ich war damals, im anbrechenden Frühling 2002, recht beschäftigt, sodass ich, nachdem ich Karl mein Fahrrad vorbeigebracht hatte, einige Wochen nicht mehr daran dachte, mal bei Karl in seiner Werkstatt im Hinterhof vorbeizuschauen, um mein Fahrrad abzuholen.

Etwa zwei Monate später traf ich Karl in der Kneipe. „Dein Fahrrad ist gemacht“, sagte er beim Feierabendbier, „du kannst es abholen. War ja ganz schön ’runtergekommen.“ – „Prima“, sagte ich, „ich komm’ in den nächsten Tagen vorbei. Teuer?“ – „Nö, normal.“

Irgendwie wurde nichts daraus. Es kam immer wieder was dazwischen. Ungefähr einen weiteren Monat später traf ich Karl in der Kneipe. Ich begrüßte ihn und sagte, ich würde morgen vorbeikommen und mein Fahrrad abholen.

„Du, hör zu“, sagte Karl, „ich glaub’, wir haben’s verkauft.“ – „Äh … wie bitte?“ Ich glaubte, mich verhört zu haben. „Verkauft? Mein Fahrrad?“ – „Ja, dein Fahrrad ist weg. Das muss verkauft worden sein. Aus Versehen.“ – „Du erzählst Märchen.“ – „Nein. Das Rad ist weg. Ich hab’ keine Ahnung, aber es ist verschwunden. Verkauft, glaub’ ich. Du kriegst ein neues, wenn was für dich Passendes ’reinkommt.“

Ich versuchte mich zu sammeln und sammelte mich sogleich. „Aber bitte mit so einem Schloss, wie es mein Fahrrad hatte. Das war teuer!“, sagte ich ruhig. „Das Schloss ist doch kein Problem“, sagte Karl, „das kriegst du. Echt kein Problem.“ Er nahm einen Schluck Bier.

Ich überspringe einige Monate. Im Herbst des vergangenen Jahres sagte Karl, es sei „nur noch eine Frage der Zeit“, wann „was Passendes“ reinkomme, meine „Nummer“ habe er ja. Er würde mich „anrufen“, wenn was „’reingekommen“ sei. „Was Gleichwertiges, in deiner Größe.“ – „Is’ gut“, sagte ich.

Im Frühjahr dieses Jahres sagte ich am Tresen zu Karl, ich hätte in letzter Zeit wenig Zeit gehabt, um mal bei ihm vorbeizuschauen, aber er habe ja meine Nummer und könne mich anrufen, wenn er was Passendes habe. „Die hab’ ich“, sagte Karl. „Is’ ja auch nicht so wichtig gewesen, der Winter war ja hart, aber jetzt, im Frühjahr, wäre es schon gut, wenn …“ – „Sicher, du brauchst jetzt ein Fahrrad.“

Bis dato zum letzten Mal habe ich Karl vor sechs Wochen gesehen, beim Feierabendbier in der Kneipe. Wieder flossen etliche Fahrradbiere in Höchstgeschwindigkeit durch die Hälse, und die Fahrradfrage kann noch immer keinen Feierabend machen. Sie ist nach wie vor, wie wir „Akademiker“ zu sagen pflegen, „virulent“, und in gewisser Weise ist sie auch „virtuell“, denn mein neues Fahrrad ist bis heute nur ein neues Fahrrad der Vorstellung geblieben, auch wenn das alles schwer vorstellbar ist. Aber es ist tatsächlich die Wirklichkeit.