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Archiv-Artikel

Zum Plauschen in den Waschsalon

Wie man kreativ mit der Bauordnung umgehen kann: In Wien beweist die Wohnanlage Sargfabrik, dass vieles möglich ist, wovon Mieter träumen. Dachgärten, Schwimmbad, Carsharing, Kindergarten, Partyküche, Lesesaal – all inclusive in der Sargfabrik und ihrer kleinen Schwester Miss Sargfabrik

von REINHARD SEISS

Vor einigen Jahren präsentierte sich Wien in einem Folder als Architekturstadt, die auch abgesehen von kaiserlich-königlicher Repräsentationsbaukunst internationale Qualität zu bieten hat. Ausgewählt wurden dafür drei Wohnbauten: Der Karl-Marx-Hof – die Ikone des sozialen Wohnungsbaus im Roten Wien der 20er- und 30er-Jahre. Das Hundertwasser-Haus – eine der größten Tourismusattraktionen der Stadt. Und die „Sargfabrik“ – die hingegen nur wenigen Wienern und noch weniger Touristen ein Begriff ist. Den ungewöhnlichen Namen bezieht der Wohnbau von seinem Standort im 14. Bezirk, auf dem sich einst die bedeutendste Fabrikationsstätte für Särge in der gesamten Donaumonarchie befand. Die unerwartete Publicity wiederum verdankt er der innovativen und für Wien unorthodoxen Wohnphilosophie der Architekten und Bewohner.

Integratives Wohnen

Es begann Ende der 80er-Jahre mit rund 20 Leuten, die mit den Standards des Wohnungsmarkts aber auch mit den konventionellen Lebensformen in Wien nicht mehr zufrieden waren. Gemeinsam mit den Architekten Johann Winter und Franz Sumnitsch vom Bau-Künstler-Kollektiv BKK-2 gründeten sie den „Verein für integrative Lebensgestaltung“ und nahmen konkrete Planungen für ein Wohnmodell nach eigenen Vorstellungen in Angriff. Ihr Haus sollte freizeittauglich und gemeinschaftsfreundlich sein, das Leben darin aber auch gesellschaftspolitischen Ansprüchen genügen: Wohnen, Kultur und Integration lauteten die Schlagworte der ersten Stunde, die in den folgenden Jahren von BKK-2 in ständiger Abstimmung mit den künftigen Bewohnern in eine dreidimensionale Form gebracht wurden.

Nach dreijähriger Bauzeit wurde die Sargfabrik 1996 eröffnet und erhielt noch im selben Jahr den Adolf-Loos-Architekturpreis – „nicht zuletzt für unsere Form der innerstädtischen Verdichtung“, erklärt Franz Sumnitsch. BKK-2 haben mit ihren Neubauten vor allem im Inneren des gründerzeitlichen Baublocks eine hohe stadträumliche Qualität geschaffen, ohne den angrenzenden Altbestand – Wohnungen, Gärten, kleine Manufakturen – dadurch zu bedrängen. Im Gegenteil, sie integrierten und adaptierten auch ein altes Mietshaus sowie einen Schornstein – als Zeugnis der ehemaligen Sargfabrik – in ihren Komplex. Trotz einer gewissen Dichte verfügt die allgemein zugängliche Anlage über attraktive Freiräume: allen voran die weitläufigen Dachgärten, die gemeinschaftlich genutzt und vielfältig auch mit Obstbäumen und Gemüsebeeten begrünt sind; daneben ein Hof mit großzügigem Biotop, ein Kinderspielplatz und eine Ballspielwiese sowie – jeder der 73 Wohnungen zugeordnet – offene Laubengänge und Balkone.

Umgangene Bauordnung

Um alle architektonischen Vorstellungen verwirklichen zu können, bedurfte es jedoch eines Kunstgriffs der Bauherren: Sie definierten die Anlage als „Wohnheim“ und waren damit in der Lage, manch hinderliche oder auch kostentreibende Vorgabe der Wiener Bauordnung zu umgehen. So ersparte man sich etwa die obligaten Vorräume und durfte Standardgrößen von Zimmern unterschreiten – zugunsten individueller Lösungen für die künftigen Bewohner. Auch das Garagengesetz, demzufolge für jede Wohnung ein Abstellplatz zu schaffen ist, schreibt für Wohnheime nur eine zehnprozentige Deckung vor. Drei dieser erforderlichen Garagenplätze wurden in der Sargfabrik als Carsharing-Plätze konzipiert, auf der verbleibenden Stellfläche drängen sich heute die Fahrräder der Bewohner.

„Allein der Verzicht auf eine Tiefgarage ermöglichte uns die Finanzierung zahlreicher Gemeinschaftseinrichtungen“, macht Architekt Sumnitsch die Dimension dieser Einsparung bewusst. Im Unterschied zu normalen Wohnhäusern werden bei Wohnheimen auch Gemeinschaftsflächen gefördert. Das öffentliche Café-Restaurant in der Sargfabrik musste dafür lediglich als „Heimküche“ getarnt werden, die Schwimmbecken im Badehaus wiederum gelten als „Gemeinschaftsbadewannen“.

Geschenkt wurde den Mietern dennoch nichts. Franz Sumnitsch, der selbst in der Anlage lebt, zahlte für seine 100-Quadratmeter-Wohnung einen Finanzierungsanteil von rund 58.000 Euro, wovon etwa 11.000 Euro auf die kollektiven Einrichtungen entfielen. Dasselbe gilt für seine monatliche Miete von 580 Euro: Ein Teil davon geht direkt an das Restaurant, das ohne Zuschüsse nicht bestehen könnte. Ebenfalls dotiert wird das Kulturbudget der Sargfabrik sowie ein Sozialfonds: Dieser kommt Bewohnern in finanzieller Notlage zu Gute, denn kommunale Wohnbeihilfe gibt es für Heime keine.

„Die Bauordnung ist kein Hindernis für innovative Architektur, man muss nur kreativ damit umgehen“, betont Johann Winter und veranschaulicht dies anhand der stark differierenden Raumhöhen in den Wohnungen: „Das vorgeschriebene Mindestmaß beträgt 2,50 Meter – wir gingen teilweise auf 2,26 Meter herunter, was für Badezimmer und Toiletten völlig ausreicht. Ebenso für Schlafzimmer, die wir mit dieser Geschosshöhe allerdings als Abstellräume definieren mussten. Dafür sind die Wohnzimmer bis zu 5 Meter hoch – womit wir die niedrigeren Räume auch rechnerisch aufwogen und dem Gesetz Genüge taten.“ So konnten BKK-2 unter einem Dach abwechslungsreiche Raumfolgen und unterschiedlichste Wohnungstypen unterbringen – ebenso wie eine Vielzahl anderer Nutzungen: vom Vereinsbüro, das den Kulturbetrieb der Sargfabrik und die Hausverwaltung organisiert, über einen Veranstaltungssaal für 240 Personen bis hin zu einem Montessori-Kindergarten und einem Waschsalon, der bewusst als Kommunikationsort konzipiert wurde.

Markenzeichen Orange

Charakteristisch für die mehrgliedrige Wohnanlage sind die schräg nach außen geneigten Brüstungen der Laubengänge und Balkone, vor allem aber die orange Fassadenfarbe, durch die sich die Sargfabrik von der benachbarten Bebauung deutlich abhebt. Das Orange wurde zum Markenzeichen und fand beim Erweiterungsbau – einen Block weit entfernt – erneut Anwendung. „Miss Sargfabrik“ lautet die kryptische Bezeichnung des im Jahr 2000 fertig gestellten Hauses von Winter und Sumnitsch, die mittlerweile unter BKK-3 firmieren. Das Präfix „Miss“ birgt einen Hinweis auf den Standort, die Missindorfstraße – bringt aber auch zum Ausdruck, dass es sich dabei um die jüngere und kleinere Anlage handelt.

Die Apartments bieten – wie schon in der Sargfabrik – räumliche Abenteuer: Auffallend sind hier die fließenden Übergänge zwischen den unterschiedlich hohen Wohnbereichen in Form von schiefen Ebenen, am Boden ebenso wie am Plafond. In Folge der umfassenden Mitbestimmung durch die Bewohner weisen alle Wohneinheiten individuelle Grundrisse mit spezifischer Elektroplanung und eigener Innenausstattung auf. Die hofseitigen Laubengänge bilden eine Fortsetzung der Wohnfläche: Mit Breiten bis zu drei Meter dienen sie zugleich als Erschließungs- und Aufenthaltsraum.

Fünf Atelierwohnungen tragen dem Trend zum Arbeiten und Wohnen an einem Ort Rechnung. Auch BKK-3 haben in einem der Studios ihr Büro. An kollektiven Einrichtungen finden sich neben dem schon obligaten Waschsalon eine Gemeinschaftsküche mit Platz für etwa 20 Personen, um Partys zu feiern oder Besprechungen durchzuführen, weiters ein Medien- und Lesesaal mit PCs sowie den wichtigsten deutschsprachigen Zeitungen und Zeitschriften, ein Clubraum, der von Jugendlichen selbst verwaltet und bespielt wird, und eine kleine Gästewohnung.

Urbanes Zukunftsmodell

Hier können all jene „probewohnen“, die keinen Platz mehr in den beiden Anlagen gefunden haben. Allein für die 39 Apartments in der Miss Sargfabrik gab es 400 Anmeldungen, schon zu Baubeginn waren 50 Prozent der Wohnungen vergeben – und nach wie vor gibt es Wartelisten von potenziellen „Nachrückern“. Der durch das Modell „Wohnheim“ bedingte Umstand, dass man trotz relativ hoher Eigenmittel kein direktes Wohnungseigentum erwerben kann, tut der Attraktivität der beiden Komplexe offensichtlich keinerlei Abbruch. Die einzigartige Möglichkeit der Mitbestimmung und Mitgestaltung an der Entwicklung der gesamten Einheit, an der jeder der knapp 200 Bewohner Anteilseigner ist, scheint dies mehr als aufzuwiegen.

Bereits nach fünf Jahren lässt sich auch feststellen, dass die Ziele des Vereins – Wohnen, Kultur und Integration – erfüllt wurden: Sargfabrik und Miss Sargfabrik sind moderne Niedrigenergiehäuser und stehen für ökologisches Wohnen. Die Kulturveranstaltungen, das Badehaus sowie das Café-Restaurant beleben das gesamte Viertel. Und schließlich wurden fünfzehn Prozent der Wohnungen an alte Menschen, geistig- und körperlich Behinderte, Flüchtlinge, Studenten sowie an eine sozialpädagogische Wohngemeinschaft von Jugendlichen vergeben.

Franz Sumnitsch betrachtet die Sargfabrik-Projekte deshalb auch nicht als Wohnbauten, sondern als offene Kommunikations- und Begegnungsstätte, die als Modell eines modernen, urbanen Lebens in die Zukunft weist.

Die etablierten Wiener Wohnungsbaugesellschaften staunen nicht schlecht über die anhaltend hohe Wohnzufriedenheit in der Sargfabrik, scheuen sich aber nach wie vor, ähnliche Wege zu beschreiten. Zu groß mutet der Aufwand der Mieterbeteiligung an, zu differenziert scheinen die individuellen Lösungen für ihre schematisierten Planungs- und Bauabläufe. Und auch die Wiener Wohnbaupolitik verschließt die Augen vor dem Erfolgsrezept von BKK-3: Soziale Infrastruktur und Gemeinschaftseinrichtungen werden nicht oder nur unzureichend gefördert. Lieber steckt man öffentliche Gelder in fragwürdige Prestigebauten so genannter Stararchitekten, die – wie die letzten Jahre zeigten – kaum mehr als durchschnittliche Massenware hervorbrachten. So werden Sargfabrik und Miss Sargfabrik noch längere Zeit die Aushängeschilder des modernen Wiener Wohnungsbaus bleiben.

Reinhard Seiß ist Stadtplaner, Filmemacher und Fachpublizist in Wien.