barbara bollwahn über Rotkäppchen
: Bonbonpapier statt Arbeitsvertrag

Was tun, wenn man sein Sozialversicherungsbuch verbrannt hat? Alle wollen helfen – und viele können es auch

Kürzlich bekam ich Post von der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte. „Sie sind verpflichtet, bei der Klärung des Versicherungskontos mitzuwirken“, teilte mir die Behörde mit und bat um Vervollständigung: Bei den Nachweisen meiner Rentenansprüche klaffe für die Zeit zwischen 1980 und 1989 ein Loch.

Mit Genugtuung nahm ich zur Kenntnis, dass meine Arbeitsjahre im Arbeiter-und-Bauern-Staat im Alter noch Früchte tragen sollen. Liebend gerne würde ich mitwirken. Doch ich habe mein Sozialversicherungsbuch nicht mehr, in das in der DDR alle meine Arbeitsverhältnisse und Verdienste eingetragen wurden. Das ist keine sozialistische Schlamperei, sondern meine Schuld. Ich habe es verbrannt.

Das habe ich am Tag nach dem Mauerfall getan, als ich in Leipzig meine Koffer packte, um nach Westberlin zu gehen. Ich hatte Angst, dass mein Vater, ein Allgemeinarzt, das Büchlein durch einen dummen Zufall in die Hände bekommen könnte. Dann hätte er bemerkt, dass ich drei Jahre zuvor seine Unterschrift gefälscht hatte, um mich selbst krankzuschreiben.

Dafür gab es einen handfesten Grund. Während meines Spanisch- und Englischstudiums an der Karl-Marx-Universität Leipzig machte ich ein Praktikum beim VEB Reisebüro am Alexanderplatz in Ostberlin. „Im Rahmen der sozialistischen Arbeitshilfe“ sollte ich Reisende aus Osteuropa betreuen. Das fand ich aberwitzig. Es war doch nicht meine Schuld, dass spanisch- oder englischsprachige Touristen keinen Bock auf den Osten hatten. Ich wollte nicht hin. Mein Vater aber meinte, ich sei zu faul, und schlug meine Bitte aus, mich krankzuschreiben.

So schlichen meine jüngere Schwester und ich damals aufgeregt in seine Praxis. Ich pflanzte mich in den Arztstuhl, hängte mir das Stethoskop meines Vaters um den Hals und schnappte mir das Krankheitenbuch mit den dazugehörigen Nummern. Den rechten Zeigefinger ließ ich über die Seiten gleiten und dort hängen bleiben, wo meine Schwester „Stopp!“ rief. Wir haben gebrüllt vor Lachen, als ich bei Vorhautvergrößerung landete. Ich entschied mich dann doch für eine eitrige Angina. Nur weil sich mein Vater damals weigerte, mir einen Gefallen zu tun, habe ich jetzt die BfA am Hals.

Einfach nachzuweisen ist der Zeitraum von 1980 bis 1982. Da habe ich in einer sächsischen Kleinstadt Abitur gemacht. Ach Gott, da fällt mir ein, dass dieses Zeugnis verloren gegangen ist. Verbrannt habe ich es sicher nicht, denn die Unterschriften waren echt. Bei einem Telefonat mit dem Schulleiter des jetzigen Gymnasiums versichert mir der nette Herr, dass es überhaupt kein Problem sei, mir eine Kopie auszustellen.

Wie aber beweise ich, dass ich nach dem Abi ein Jahr als Sekretärin an der Karl-Marx-Universität gearbeitet habe? Was weiß ich, wie die Abteilung hieß! Ich kann mich nur noch erinnern, dass die meisten Kollegen stramme Parteigenossen waren, dass mir so ein alter Sack immer Bonbons zusteckte, und mich meine Chefin einmal nach Hause schickte, weil ich an einem Tag mit Publikumsverkehr und großer Hitze einen Minirock trug.

Im Völkerkundemuseum Leipzig habe ich 1987 als Aufsicht und an der Kasse geschuftet. Als ich dort anrief, um mein Anliegen vorzutragen, unterbrach mich die Frau am Telefon sofort. „Ach, Frau Bollwahn, Sie kenn’ ich doch. Ich bin die Frau Kabisch. Erinnern Sie sich nicht?“ Ich war baff. Sie arbeitet noch immer in der Verwaltung und hält eisern Ordnung: Fast wedelte sie am Telefon mit meinem damaligen Arbeitsvertrag.

Belegt sind auch die Jahre von 1984 bis 1986, in denen ich Spanisch und Englisch studiert habe. Das kann ich mit einem Zeugnis beweisen. Zum Glück wird meine Rente nicht gemindert, denn in Marxismus-Leninismus und Politischer Ökonomie hatte ich nur eine Drei. Ein netter Service-Mitarbeiter der BfA erklärte mir am Telefon, dass solche Noten außerdem geschwärzt werden könnten. Und um die Lücken zu füllen, solle ich „einfach alles schicken“, was ich noch von damals habe.

Also stellte ich meine Unterlagen zusammen. In den Umschlag kamen die authentischen zeitgeschichtlichen Zeugnisse, die meine Arbeitsexistenz belegen: das Einwickelpapier eines der Bonbons, das mir der alte Sack an der Uni zugesteckt hatte und mir als Lesezeichen diente. Eine Bescheinigung vom – längst aufgelösten – „Kombinat Fortschritt Landmaschinen“ von 1987, die bestätigt, dass ich die Übersetzungen „stets pünktlich und gründlich“ gemacht habe. Und das Zertifikat einer spanischen Firma, für die ich „mit besten Arbeitsleistungen“ in den – ebenfalls abgewickelten – Leuna-Werken bis wenige Monate vor dem Mauerfall als Dolmetscherin gearbeitet habe.

An eins aber kann ich mich beim besten Willen nicht erinnern: Ob ich damals in irgendeine Altersversorgung eingezahlt habe. Wohl eher nicht. Denn in der DDR wollte ich nicht alt werden.

fragen zur angina im osten? kolumne@taz.de