Für Reformen. Mit Arafat

„Die Familien der Märtyrer hungern, aber den Söhnen der Mächtigen geht es gut“

AUS GAZA SUSANNE KNAUL

Aus riesigen Lautsprechern, die mit Stricken auf dem Dach eines Minibusses befestigt sind, dröhnt die Stimme eines jungen Palästinensers. „Schuhadat al-Aksa!“, ruft er die Mitglieder der „Al-Aksa-Märtyrer“ auf, „kommt heute Abend um 19 Uhr nach Scheich Raduan.“ Überraschend wenig konspirativ wird die Einladung an die militanten Fatah-Anhänger verbreitet. Man fürchtet die israelischen Exekutionskommandos offenbar nicht. Thema der Veranstaltung wird diesmal nicht der Kampf gegen die Besatzung sein, sondern die für den kommenden Abend geplante Demonstration gegen die eigene korrupte Führung.

Zwei Entführungen, der Rücktritt von Regierungschef Ahmed Kurei – Abu Ala genannt –, Demonstrationen mit Verletzten und schließlich der bewaffnete Überfall auf den reformfreudigen ehemaligen Informationsminister Nabil Amr am Mittwochabend sind die bisherigen Höhepunkte des parteiinternen Konflikts der Fatah.

Palästinenserpräsident Jassir Arafat reagierte vor Wochenfrist mit der Nominierung eines neuen Sicherheitschefs: seines wegen Korruption und des Handels mit Alkohol verrufenen Neffen Mussa Arafat. Der wiederum blieb kaum zwei Tage im Amt, bis sein Onkel ihn infolge der heftigen Proteste unter den Palästinensern wieder abberief und an seiner Stelle den weniger umstrittenen Brigadegeneral Abdel-Rasek al-Madschaida einsetzte. Parallel kündigte Arafat die sowohl von Palästinensern als auch von den USA wiederholt geforderte Zusammenlegung der Sicherheitsdienste in drei zentralen Organisationen an.

„Die Konzentration der Sicherheitsdienste ist ein richtiger Schritt“, begrüßt Munir Chatib die Entscheidung Arafats. Aber dabei dürfe es nicht bleiben. Der 30-jährige Chef der „Schabiba“, der Fatah-Jugend in Rafah, fordert „personelle Veränderungen“. Viel zu lange schon würden „die Machtpositionen in der Armee“ von den gleichen Leuten besetzt. „Die Familien der Märtyrer hungern, die Armen werden vernachlässigt, aber den Söhnen der Mächtigen geht es gut.“ Das Thema Korruption sei nicht neu, aber „jetzt reicht’s“, meint Munir, der mitreden will, wenn es um die Verteilung von „Geld, Jobs und politischen Entscheidungen“ geht.

Selbstbewusst und gelassen sitzt der junge Parteifunktionär mit kurz geschorenen Haaren und großen freundlichen Augen im Büro der Schabiba in Gaza. „Die Situation ist nicht so gefährlich, wie sie sich in den Medien darstellt“, sagt er. Trotzdem müsse Arafat „unseren Unmut zur Kenntnis nehmen und darauf reagieren“. Munir deutet auf die Schlagzeile von Al-Hayat al-Yadida, dem führungsnahen Nachrichtenblatt in Gaza. Marwan Barghuti, Chef der Fatah im Westjordanland, hat sich aus dem Gefängnis heraus zu Wort gemeldet: „Palästinensisches Blut ist die rote Linie“, warnt er einem Ausbruch der Gewalt.

Ein Bild des für die Vorbereitung mehrerer Terrorattentate zu lebenslänglicher Haftstrafe verurteilten Barghuti hängt im Büro der Schabiba. Daneben eine Schwarzweißzeichnung Arafats aus früheren Tagen und eine Fotoserie, die die Verhaftung und Erschießung eines Palästinensers dokumentiert. An den Wänden stapeln sich Akten. Im Büro herrscht reges Treiben, zwei Telefone klingeln pausenlos. Aufbruchstimmung.

Es sei nicht allein die Schabiba, die den Protest gegen die PLO-Führung forciere, betont Munir. „Die Demonstrationen waren spontan, das ganze Volk will Veränderung.“ Was nicht etwa heiße, dass Arafat, „der unser Führer ist“, abtreten sollte. Aber er müsse doch Kompetenzen delegieren. Der junge Funktionär räumt ein, dass „viele der Demonstranten“ – am Donnerstag waren es 9.000 Menschen, die durch Gaza zogen – zu den „Märtyrerbrigaden der al-Aksa“ gehören. Der militante Flügel der Fatah sei jedoch nicht federführend. Auch von dem Gerücht, dass Mohammad Dahlan, parteiinterner Gegner Arafats und strikter Verfechter von Reformen vor allem im Sicherheitsbereich, hinter dem Protest steht, will Munir nichts hören. Angesichts des zunehmenden Unmuts im Volk sei es gar nicht erst nötig gewesen, die Leute zu mobilisieren.

Bereits seit Mitte Mai, als die Fatah im Gaza-Streifen parteiinterne Lokalwahlen durchgeführt hat, zeichnen sich Veränderungen ab. Viele Nachwuchspolitiker, zumeist Studenten, werden künftig die Bezirksgruppen ihrer Partei vertreten und später wiederum aus den eigenen Reihen die Repräsentanten für den Revolutionsrat und das höchste Parteigremium, den Zentralrat, rekrutieren. Vor 16 Jahren fanden zum letzten Mal Wahlen statt. Bis auf eine einzige Ausnahme setzt sich der Zentralrat aus der so genannten PLO Tunis zusammen, der 1994 aus dem Exil zurückgekehrten palästinensischen Führung.

Die parteiinterne Krise ist trotzdem nur zum Teil ein Konflikt der Generationen. Schließlich beginnt die Korruption nicht erst ab einem bestimmten Alter. Auch die wenigen jüngeren Posteninhaber leben in großzügigen Villen – finanziert mit Geldern, die eigentlich den Menschen in den palästinensischen Gebieten zugedacht waren. Die Schabiba formuliert zwar die Forderung nach mehr Mitbestimmung und Transparenz am lautesten, sie ist damit aber nicht allein. Sie stößt auch auf Sympathie in den Reihen der alten PLO-Vorderen, die bei der Ankunft in ihrer Heimat vor zehn Jahren die politischen Posten nahezu ausnahmslos unter sich aufgeteilt haben.

Abu Ala hält jedenfalls an seinem Rücktrittsgesuch fest. Seine Gründe dafür sind immer noch die gleichen, die im vergangenen Jahr seinen Vorgänger Mahmud Abbas – genannt Abu Masen – den Abschied nehmen ließen: Arafats Mangel an Bereitschaft, Verantwortungsbereiche – vor allem im Sicherheitsbereich – zu delegieren. „Sollte Arafat es ablehnen, dem Kabinett und dem Parlament die im Grundgesetz festgelegten Kompetenzen zuzugestehen, wird es keinen Ersatz für Abu Ala geben“, prophezeit Riad Sanoun, ehemals Gesundheitsminister und heute Fatah-Abgeordneter in Gaza. Für seine Nachfolge seien der jetzige Außenminister Nabil Shaat sowie Saeb Erikat, Minister für Verhandlungsangelegenheiten, im Gespräch. „Auch der Name Abu Masen ist gefallen“, sagt Sanoun. Aber keiner der drei potenziellen Kandidaten, ist er überzeugt, werde sich auf eine Amtsübernahme einlassen, sollte Arafat hart bleiben.

Eine der grundsätzlichen Forderungen sei, „die Sicherheitsdienste dem Innenministerium und nicht dem Präsidenten zu unterstellen“. In der bisher formulierten palästinensischen Verfassung steht dazu: „Der Präsident des Staates ist der höchste Kommandant der palästinensischen Sicherheitskräfte, die dem verantwortlichen Minister unterstehen.“ Um Kompetenzgerangel künftig auszuschließen, wäre eine Änderung zumindest dieses Paragraphen zwingend.

Wie der Schabiba-Funktionär Munir fordert auch Sanoun personelle Veränderungen im Bereich der Sicherheitsdienste. Die würden seit über zehn Jahren von „Männern geleitet, die sich nicht immer gesetzestreu verhalten“, formuliert er das Problem vorsichtig. Die Kommandanten auszutauschen ist bis heute alleinige Kompetenz Arafats.

Die Vermutung liegt nahe, dass die erbosten Reformer personelle Veränderungen erzwingen wollten, als sie am vergangenen Wochenende den Polizeikommandanten Ghasi al-Dschabali entführten. Die Wahrheit sieht möglicherweise anders aus. Die Entführung, so erklärt Sanoun, ginge auf das Konto „einer mafiaähnlichen Bande“, bei der Dschabali über Drogengeschäfte in Ungnade geraten sei. „Wenn es irgendwelche Reformen gäbe, müssten die Entführer und Dschabali selbst als Erste vor ein Gericht gestellt werden.“

Auch die Entführung von vier französischen UN-Mitarbeitern stehe nur bedingt mit Reformen in Verbindung, meint Sanoun. Täter seien auch Opfer der Häuserzerstörungen in Rafah Ende Mai gewesen, die auf ihre Misere aufmerksam machen wollten. „Die Verwaltungsbehörden haben bis heute niemanden geschickt, um diese Leute auch nur einmal zu besuchen“, schimpft Sanoun.

Rund 15.000 Menschen sind laut UN-Angaben nach der Zerstörung ihrer Häuser durch israelisches Militär bei Verwandten oder in Notunterkünften untergebracht. An der Grenze zu Ägypten, an der Transferstraße zu dem jüdischen Siedlungsblock Gusch Katif und in diesen Tagen verstärkt in Beit Chanoun, nördlich von Gaza, wüten die Soldaten im Kampf gegen den Waffenschmuggel und den Beschuss mit Kassamraketen, die jüngst zwei Todesopfer foderten.

Wohnraum für die neuen Heimatlosen stünde theoretisch zur Verfügung. Nördlich von Gaza legen Bauarbeiter gerade letzte Hand an die „Scheich Zaiad City“, die mit Spendengeldern des gleichnamigen Scheichs aus Abu Dabi finanziert wurde: gut zwanzig schlicht, aber freundlich angelegte mehrstöckige Häuser, in die ursprünglich Angehörige der palästinensischen Sicherheitsdienste einziehen sollten. Wegen der aktuellen Entwicklungen bat nun Scheich Zaiad, die Wohnungen den obdachlos gewordenen Familien kostenlos zukommen zu lassen. Das aber lehnt die Autonomiebehörde ab: Zum einen seien bereits Kaufverträge abgeschlossen und Anzahlungen geleistet worden, zum anderen müsse man die Wohnungen veräußern, um mit dem eingenommenen Geld neue Wohnprojekte zu finanzieren, heißt es.

Das Verhalten der Behörde deckt sich lückenlos mit dem ohnehin denkbar schlechten Image der Autonomiebehörde und nährt erneut den Unmut in der Bevölkerung. Diesmal zu Unrecht, denn, so erklärt Christer Nordau, Mitarbeiter des UN-Hilfswerk für palästinensische Flüchtlinge UNRWA, rund „80 Prozent“ der durch die Häuserzerstörungen neuen Obdachlosen „leben in Rafah und würden niemals von dort wegziehen“. Die UNRWA habe mit Scheich Zaiad bereits ein neues Spendenabkommen vereinbart und wird „in Kürze mit dem Bau neuer Häuser in Rafah beginnen“.