„Küchenpersonal finanziert Facharbeiter“

Der Soziologe Hans-Peter Müller über die Sozialpartnerschaft in Deutschland und die „neue Gerechtigkeitsstrategie“ von IG-Metall-Vize Berthold Huber

taz: Herr Müller, die Manager wollten die Beschäftigten ausrauben, hieß es am Anfang des Streits bei DaimlerChrysler. Zeigt die schnelle Einigung zwischen Konzernleitung und Betriebsrat nicht im Gegenteil, dass die Sozialpartnerschaft in Deutschland noch funktioniert?

Hans-Peter Müller: Im Unternehmen selbst hat sich die Sozialpartnerschaft ganz sicher stabilisiert. Und für die Metallindustrie ingesamt ist das ein Signal, dass beide Seiten keinen Konfliktkurs auf Biegen und Brechen fahren.

Stimmt es also nicht, dass sich bei Daimler und anderswo inzwischen die rabiaten Manager durchgesetzt haben, die ihre Unternehmen ausschließlich an den Aktienrenditen ausrichten?

Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass die deutsche Industrie unter bislang unbekanntem Druck des Weltmarkts steht. Mit den alten Strategien kommt sie nicht mehr zurecht.

Wieso reichen die traditionellen Mittel heute nicht mehr aus?

In den vergangenen Jahrzehnten steigerten die Unternehmen fortwährend ihre Produktivität und verbesserten den technischen Standard der Produkte. Die Nachfrager in aller Welt waren bereit, den höheren Preis für die gute Qualität in Kauf zu nehmen. Nun stellen Firmen aus dem Ausland aber gleichwertige Produkte her, nur billiger.

Daimler baut nicht mehr die besten Autos der Welt?

Sie rechtfertigen nicht mehr jeden Preis. Um kurzfristig reagieren zu können, macht das Management also das, was nahe liegt. Man geht an die Sozialpolster heran, die es ja immer noch gibt.

Sie meinen, es war richtig, dem Betriebsrat die Pistole auf die Brust zu setzen, um Regelungen wie die Steinkühler-Pinkelpause, die die Bandarbeiter gar nicht mehr in Anspruch nehmen, zu eliminieren?

Da wird doch mal öffentlich, welche Privilegien die Belegschaften zusammen mit ihren Betriebsräten im Laufe der Zeit akkumuliert haben.

Es macht also nichts, dass die Facharbeiterbelegschaften in den florierenden Betrieben begrenzten Verzicht leisten?

Nein, die können das noch am ehesten verkraften. Die schnelle Einigung bei Daimler zeigt jetzt auch, dass dort durchaus Luft ist, um Vergünstigungen einigermaßen sozialverträglich abzuschmelzen.

Ein Sieg des Vorstands, der die Ökonomie verstanden hat und eine wirtschaftlich sinnvolle Niederlage des Betriebsrats?

Glatt durchgegangen ist der Sieg allerdings nicht. Auch die Unternehmensseite hat etwas geben müssen.

Was denn?

Einen Teil der künftigen Tariferhöhungen, die bislang für die Angleichung der Arbeiter- an die höheren Angestelltenlöhne vorgesehen waren, reserviert die Konzerleitung nun für das neue Kostensenkungsprogramm. Einen Teil finanziert damit das Unternehmen.

Die gut bezahlten Entwicklungsingenieure sollen in Zukunft länger arbeiten und werden dafür auch zusätzlich entlohnt. Andere Tätigkeiten wie Kochen in der Kantine wurden aus dem Metalltarif herausgenommen. Zeigt sich darin der Trend zur Wissensgesellschaft?

Das ist die Strategie von IG-Metall-Vize Berthold Huber – aber auch ein ganz neuer Beitrag zur Gerechtigkeitsdebatte. Das Küchenpersonal verzichtet auf Geld, damit die Facharbeiter gut verdienen können.

Ein Rückzug auf die Kern-Klientel der IG Metall?

Die starke, wohlhabende Facharbeiterschaft ist die Gruppe, um der es der IG Metall in Wirklichkeit geht. Hier wurde eindeutig Klientelpolitik gemacht: Solidarität der Schwachen mit den Starken.

Was sagt die Einigung bei Daimler in Sindelfingen über die Einkommensentwicklung in der gesamten Wirtschaft?

Diejenigen Firmen, die eine gute Position auf dem Weltmarkt haben, können auch in Zukunft hohe Löhne zahlen. Dagegen bleibt das Lohnniveau in Betrieben, die für den augenblicklich schwachen Binnenmarkt produzieren, tendenziell niedrig.

INTERVIEW: HANNES KOCH