fußpflege unter der grasnarbe
: Die „kicker“-Autisten - zu zerstreut zum Brötchenholen

Ich habe es mir schon im Kiosk besorgt oder im Supermarkt. In Berlin, Hamburg, Südfrankreich oder eben wie vor ein paar Tagen an einem Flughafen in der badischen Prärie. Der Drang ist jedes Jahr gleich stark und schreit nach sofortiger Befriedigung. Ein Blick ins Zeitschriftenregal, bezahlen und schon ist das kicker-Sonderheft meines. Seit der Saison 1984/85 kaufe ich mir alljährlich den roten Kassiber, das damals noch fünf Mark kostete und heute fast doppelt so teuer ist. Wobei „teuer“ eigentlich ein geradezu taktloser Begriff ist, denn was einem auf über 200 Seiten geboten wird, ist in materiellen Kategorien nicht zu fassen.

Wussten Sie, dass der leichteste Hannoveraner Spieler auf den beruhigenden Namen Tranquillo Barnetta hört und 62 Kilo wiegt? Dass Stefan Beinlich mit 234 Einsätzen der erfahrenste HSV-Spieler ist? Hätten Sie ohne den kicker gewusst, dass die Stars der Liga ihr Fußwerk oft bei Teams wie dem TSV Meckenbeuren oder Fortschritt Erdmannsdorf lernten? Sehen Sie! Dann legen Sie diese hervorragende Zeitung doch einfach mal beiseite und kaufen Sie für 4 Euro 80 die Basis für abendelange geglückte Konversation.

Wie bitte, das alles interessiert Sie gar nicht? Sie halten Fußball im Allgemeinen und Statistiken darüber im Besonderen für Zeitverschwendung? Dann halten Sie es bestimmt mit Ted Gaier von der Band „Die Goldenen Zitronen“, der Fußballfans für zu groß geratene Kinder mit jung gebliebener Liebe zum Autoquartett hält. Das ist Ihr gutes Recht, zeugt aber nicht von viel Einfühlungsvermögen.

Beklagen Sie sich also nicht, wenn es Ihnen so geht wie einer Freundin, die sich bei mir jüngst bitterlich über ihren Lebensgefährten beschwerte. Mit der Order drei Brötchen und eine Hefeschnecke ohne Rosinen zu kaufen, habe sie ihn morgens zum Bäcker entsandt. Von dort sei er aber mit zwei Brötchen und rosinengespicktem Naschwerk zurückgekommen: „Typisch Mann“, klagte sie, zu zerstreut, sich die einfachsten Dinge zu merken, aber sämtliche UI-Cup-Teilnehmer seit Erfindung des Wettbewerbes referieren können. Sie war recht schockiert, als ich entgegnete, ich selbst würde beim Bäcker wahrscheinlich einen Becher Wurstsalat oder eine neue Couch bestellen, wenn ich kurz zuvor Aufwühlendes gelesen hätte. So etwas, wie am vergangenen Freitag auf Seite 192 rechts oben: Uwe Erkenbrecher (“Wir machen jetzt noch zweidreiviertel Minuten Schusstraining“) hat schon wieder einen Job und unterweist nun die Wolfsburg-Amateure in der Kunst des Korinthen-Dropkicks. Zu viel Wissen kann manchmal auch schädlich sein.

Sie ahnen vielleicht, wie spannend mein Leben seit dem 20. Juli, dem diesjährigen Erscheinungsdatum, ist. Dabei habe ich insgesamt erst drei mal das Wort kicker verwendet. Bei meiner ersten Stelle in einer Sportredaktion ersetzte ich den Titel einmal durch „Zentralorgan des Fußball-Autisten“, was mir einen Rüffel vom Chefredakteur eintrug: Arrogant klinge das, schließlich kauften wir uns doch alle jeden Montag ebendiese Zeitung, oder etwa nicht? Genau das tun wir...und wissen seit unserem ersten Sonderheft, wie schön so ein gepflegter Autismus sein kann.