Die Patrons sind von der Kette

AUS PARIS DOROTHEA HAHN

Seit Siemens in Nordrhein-Westfalen den Durchmarsch gemacht hat, gibt es auch in Frankreich kein Halten mehr. Nur wenige Tage später setzte in Frankreich eine Zweigniederlassung des deutschen Konzerns Bosch in Vénissieux, Industrievorstadt von Lyon, eine unbezahlte längere Wochenarbeitszeit durch. Einziges Argument: „Entweder ihr stimmt zu, oder wir gehen nach Tschechien.“ Als Nächster diktierte Europas größter Hühnerzüchter, die französische Gruppe Doux, den Beschäftigten eine ebenso massive wie unbezahlte Verlängerung der Arbeitszeit. Es folgte der größte europäische Hersteller von Elektrokleingeräten, SEB – sowie bislang zwei Dutzend andere Unternehmen im Land.

Zahlreiche weitere Firmen haben bereits Pläne zur Verlängerung der Arbeitszeit in den Schubladen – ohne Lohnausgleich. Darunter Konzerne, die im vergangenen Jahr hohe Gewinne gemacht haben. Die Argumente sind im Einzelfall unterschiedlich: Manche Unternehmer drohen an, in Billiglohnländer zu gehen, andere winken mit Massenentlassungen, wieder andere behaupten, sie würden ihre „internationale Wettbewerbsfähigkeit verlieren“. Nur das Ziel ist immer gleich: Es geht darum, die Lohnkosten zu senken.

„Die Revanche des Patronats“ nennt die größte französische Gewerkschaft CGT die Kettenreaktion. Der Chef der politisch kein bisschen links stehenden Gewerkschaft der leitenden Angestellten, CFE-CGE, Jean-Luc Cazettes, erinnert daran, dass „Erpressung eine Form des Terrorismus“ sei und folgert: „Wir haben in unserem Land terroristische Unternehmer.“ Die Sozialdemokratin Ségolène Royal, die bei den Regionalwahlen im Frühjahr das beste Ergebnis erzielte, spricht von einer „inakzeptablen und kriminellen Alternative: Entlassung oder Gratisarbeit“. Und selbst der Chef der rechten Regierung, Jean-Pierre Raffarin, warnt vor den Gefahren des „sozialen Dschungels“. Von ganz oben verurteilt der Staatspräsident die neue Methode des Patronats. „Das ist ein rutschiger Weg nach unten“, sagte Jacques Chirac am Nationalfeiertag, „darauf sollte man sich nicht einlassen.“

Vorbild Deutschland

Auf den ersten Blick sieht es so aus, als hätten französische Unternehmer nur auf die Entscheidung in Deutschland gewartet, um ihrerseits loszuschlagen. Und der Vorsitzende des französischen Unternehmerverbands Medef, Ernest-Antoine Seillière, nennt die Siemens-Methode vorbildlich für Frankreich: „Da hat ein großes Unternehmen fünf zusätzliche Arbeitsstunden gratis dazubekommen. Mit Zustimmung der Gewerkschaften.“

Tatsächlich ist die gegenwärtige Bewegung von langer Hand vorbereitet worden. Schon 1997, als eine rot-rosa-grüne Regierung sich anschickte, nach jahrelangen Produktivitätszugewinnen zugunsten der Unternehmer auch für die Beschäftigten einen Nutzen in Form von Arbeitszeitverkürzung zu ziehen, ging der Unternehmerverband Medef auf die Barrikaden. Seither hat der Verband die in mehreren Teilschritten eingeführte 35-Stunden-Woche“ ununterbrochen als „Angriff auf die Freiheit“ diffamiert und argumentierte gelegentlich sogar im Interesse der Staatsfinanzen. Sie sei „unsinnig teuer“, erklärte der Medef im Jahr 2002. Da waren die Macht in Paris gerade wieder in rechte Hände gegangen.

Das Argument ist längst in Vergessenheit geraten. Jetzt, da die Abschaffung der Arbeitszeitverkürzung zum Greifen nah gerückt ist, ist keine Rede mehr von der Verschwendung staatlicher Gelder. Im Gegenteil: Die Unternehmer verlangen nun sowohl die Abschaffung der 35-Stunden-Woche, als auch die Beibehaltung der 16 Milliarden Euro, die ihnen der französische Staat alljährlich im Rahmen der 35-Stunden-Gesetze überweist. Diese Subvention ist zur Abfederung der unternehmerischen Kosten durch die Arbeitszeitverkürzung gedacht, hat aber auch dazu beigetragen, die ohnehin seit Jahren sinkenden Lohnkosten in Frankreich noch weiter zu senken. Heute liegen die Arbeitskosten, trotz gegenteiliger Behauptungen von Medef, im europäischen Mittelfeld – unter den deutschen, aber noch vor den britischen und spanischen. Im westeuropäischen Mittelfeld liegt auch die durchschnittliche französische Wochenarbeitszeit von 37 Stunden. In den neuen mittel- und osteuropäischen EU-Mitgliedsländern allerdings liegt die Wochenarbeitszeit bei rund 40 Stunden. Gleichzeitig schrumpft die französische Industrie. Alle drei Monate werden 20.000 industrielle Arbeitsplätze im Land zerstört.

Seit dem Regierungswechsel in Paris haben sich zahlreiche Minister die Argumente von Medef zu Eigen gemacht. Eines der ersten Gesetze, das die Regierung Raffarin verabschiedete, war eine teilweise Rücknahme der Arbeitszeitverkürzung. Nachdem die Linken die zulässigen Überstunden auf 130 pro Jahr verkürzt und deren Bezahlung massiv erhöht hatten, stockten die Rechten die Zahl der zulässigen Überstunden wieder auf 180 Überstunden pro Jahr auf und machten auch die Überstundenbezahlung billiger.

Chirac ohne Gefolgschaft

Für Staatspräsident Chirac war damit die Debatte über die Arbeitszeitverkürzung beendet. Alle weiteren Anfechtungen gegen das in der Bevölkerung populäre Reformwerk der Linken nannte er „idiotisch“. Noch am 14. Juli dieses Jahres wiederholte Chirac, dass er die 35-Stunden-Woche als „soziale Errungenschaft“ betrachte, die nicht angetastet würde. Allerdings verlangte er zugleich mehr „Flexibilität“ im Umgang mit dem Gesetz.

Diese mehr als semantische Bresche wollen die Freunde des Unternehmerverbands in der Regierung nutzen – allen voran Wirtschaftsminister Nicolas Sarkozy, der nie einen Hehl daraus gemacht hat, dass er die Arbeitszeitverkürzung für „schlecht“ hält. Ihre Vorstellung ist, das 35-Stunden-Gesetz beizubehalten. Und es zugleich mit Branchen- und Betriebsabkommen seines Inhalts zu entleeren – wie es am Beispiel Bosch und Doux geschehen ist. Dabei taucht in ihren Argumenten gegen die 35-Stunden-Woche immer häufiger ein anderer Begriff auf, den der Unternehmerverband von Deutschland nach Frankreich geholt hat: „Sozialpartnerschaft“. Mit „Freiheit“ ist nicht nur die „unternehmerische Freiheit“ gemeint, sondern auch jene der Beschäftigten. „Wer mehr verdienen möchte“, so Minister wie Medef-Vertreter, „soll das Recht haben, länger zu arbeiten.“ Mit „Sozialpartnerschaft“ meinen sie, dass die Arbeitszeit und die anderen Verhältnisse in den Betrieben nicht mehr per Gesetz geregelt werden, wie es in Frankreich Tradition ist, sondern dass sich die Betroffenen an einen Tisch setzen, um darüber zu verhandeln. „Partnerschaftlich“, fügen sie pflichtbewusst hinzu.

Die Politiker wissen, dass sie damit eine reine Fiktion beschreiben. Denn eine betriebliche Demokratie existiert in Frankreich nicht. So ist es üblich, dass Unternehmer kleine Gewerkschaften, die nur einen Bruchteil der Beschäftigten repräsentieren, für unliebsame Abkommen benutzen, die anschließend für alle Beschäftigten verbindlich sind. Ein weiteres Problem für die betriebliche Demokratie ist der niedrige gewerkschaftliche Organisationsgrad der Franzosen von nicht einmal 10 Prozent. In kleinen und mittleren Betrieben, wo weit über die Hälfte der französischen Beschäftigten arbeitet, sorgen viele Patrons persönlich dafür, dass es keine Gewerkschaften gibt.

Dieses ungleiche Kräfteverhältnis sorgt dafür, dass Konflikte nur in brachialer Form gelöst werden. Wie es die Unternehmer im Augenblick vorexerzieren. Bosch zum Beispiel. Der Konzern schickte seinen 820 Beschäftigten in Vénissieux Vertragszusätze mit einer Verlängerung der Arbeitszeit ins Haus. Wer sie nicht unterschrieben zurückgeschickt hat, dem soll jetzt gekündigt werden. Nachdem mehr als 70 Prozent dieser Erpressungsbriefe wieder eingetroffen waren, meldete Bosch: Die Belegschaft hat zugestimmt. Aus der Personalleitung verlautete gleichzeitig: „12 Prozent Lohnkosten eingespart.“

Gewerkschaften machtlos

Der Hühnerfabrikant Doux mit weltweit 13.000 Beschäftigten vollzog seinen „sozialpartnerschaftlichen Dialog“ auf nicht weniger brutale Art. Nachdem keine Gewerkschaft die unbezahlte Verlängerung der Arbeitszeit mitmachen wollte, entschied die Unternehmensleitung Mitte Juli, einfach die tägliche dreißigminütige Mittagspause zu streichen, ebenso wie die jährlichen 23 Tage Freizeitausgleich für Überstunden.

Die Vizechefin der Gewerkschaft CGT, Maryse Dumas, sieht die gegenwärtige Gemengelage als „Teil des ewigen Konflikts zwischen Kapital und Arbeit“. Die Unternehmer, so Dumas’ Analyse, wollten die Osterweiterung der EU nutzen, um nebenbei zahlreiche andere soziale Errungenschaften zu kippen – von der Arbeitszeit über die Löhne bis zum Kündigungsschutz. Doch die Gewerkschafterin weiß auch, dass die Beschäftigten in Frankreich die 35-Stunden-Woche schätzen. „Es kann gut sein, dass die brutalen Angriffe wie ein heilsamer Schock wirken.“

Vereinzelt diskutieren Gewerkschafter bereits über Gegenschläge. Die Ideen reichen von gemeinsamen deutsch-französischen Proteststreiks bis hin zu Boykottplänen. Bei der rentrée, wenn also die Beschäftigten wieder aus den Ferien zurück sind, wird sich zeigen, was davon übrig geblieben ist.