Theater der umgekehrten Republikflucht

Das Grips Mitte in der Klosterstraße ist nach allerlei Umbauten fertig und eröffnet am kommenden Mittwoch seinen neuen Standort mit der Premiere „Lilly unter den Linden“. Das Stück handelt vom Sprung über die Mauer in Richtung Osten – so wie ihn nun auch das Grips Theater macht

VON ROLF LAUTENSCHLÄGER

In Zeiten von Theaterschließungen darf eine Eröffnung ruhig auch einmal symbolisch daherkommen. „Lilly unter den Linden“ heißt das neue Stück des Grips Theaters, und Intendant Volker Ludwig hat es nicht zufällig ausgewählt. Darin macht sich die Göre Lilly auf, aus dem Westen zu ihrer Familie in der DDR zurückzukehren. Es ist eine anrührende und zugleich verrückte Geschichte vom Sprung über die Mauer in östlicher Richtung. Umgekehrte Republikflucht sozusagen.

„Lilly unter den Linden“, nach dem Roman von Anne C. Voorhoeve, reflektiert die deutsch-deutsche Teilung, 20 Jahre Mauerfall – und die aktuelle Geschichte des Grips Theaters selbst. Denn das Grips eröffnet, nach 40 Jahren am Hansaplatz in Tiergarten, mit dem Lilly-Stück seine neue zweite Spielstätte in Mitte. Das „Grips Mitte“, so der Name der neuen Bühne im einstigen Podewil an der Klosterstraße, hat „in den Osten rübergemacht“, wie man in Berlin sagt. Was Grips-Chef Volker Ludwig so ausdrückt: Er freue sich, „endlich über die Mauer zu kommen“. Man habe seine Bühne in der Vergangenheit schon oft „nach drüben gewünscht, jetzt tun wir es“.

Am 24. Februar ist die Generalprobe, ein Tag später Premiere. Ludwig hat Lampenfieber, obwohl bereits jetzt die ersten Aufführungen im Grips Mitte ausverkauft sind. „Lilly“ werde bestimmt die „Linie 1“ des Ostens, ist man sich sicher im kleinen Restaurant des Podewil, heute Sitz der Kulturprojekte Berlin GmbH, die sich die neue Bühne mit dem Grips teilt.

Moritz van Dülmen, Chef der Kulturprojekte Berlin, und sein Technischer Leiter Reik Witzmann, jonglieren eine Woche vor dem Theaterstart noch mit jeder Menge Schwierigkeiten. Gerade werden die Unterkonstruktionen für die Zuschauerränge gebaut. Die neue Lichtbühne mit gut 50 Scheinwerfern über der Spielfläche ist heruntergelassen und wird justiert. Kabel, Hölzer, Plastikplanen liegen im Weg. Im Foyer wird gehämmert und geschraubt. Es muss noch gestrichen werden, insbesondere der Aufgang hinauf zum Theatersaal. Das Grips Mitte gleicht einem Zwitter aus Theater und Baustelle. Aber van Dülmen und sein Techniker sind überzeugt: „Es ist zu schaffen.“

Spiel auf Augenhöhe

Das Land Berlin als Bauherr hat einiges in das neue Theater investiert. Mehrere Millionen Euro flossen in den Umbau. Die einstige Guckkastenbühne aus DDR-Zeiten wurde geschlossen, ihre Fläche kann nun für Kulissen, Kostüme oder Material als Backstage-Bereich genutzt werden. Der große, rechteckige Theatersaal wurde saniert, ist schlicht gehalten in weißen und dunklen Farben. 150 bis 200 Personen bietet er Platz.

Die Besucher blicken auf ein 10 mal 13 Meter großes bodennahes Bühnenpodest, das das Spiel auf Augenhöhe zitiert, das im Grips am Hansaplatz schon lange Tradition ist. Die Bühne lasse sich verschieben oder verkleinern, erklärt Witzmann. Die Zuschauer könnten statt frontal auch U-förmig um die Bühne herum platziert werden. Vorhänge gibt es hier – wie im alten Grips Theater – auch nicht. Man betritt einen schönen, offenen Raum, blickt auf die Bühne direkt vor sich, hinauf zur Technik und zu den Aufbauten und spürt etwas von der Magie des Theaters. Die Licht- und Schalltechnik über der Spielstätte ist ebenfalls neu. Ebenso frisch ist die Lüftungsanlage, für die ins Dachgeschoss zwei dicke Stahlträger eingezogen wurden. „Damit das Ganze nicht herunterkracht“, kommentiert Witzmann die mächtigen Aufbauten im Dach. Die alte Decke hätte diese nicht ausgehalten. Sie wäre vermutlich zerstört worden, wie beim Brand in den 1960er-Jahren.

Angestaubter Zustand

Van Dülmen erzählt die Geschichte des einstigen „Hauses der jungen Talente“, das sich aus einem „etwas angestaubten, ja muffigen Zustand“ nach zahlreichen Umbauten und Renovierungen zu einem „attraktiven Standort“ mit vielen Möglichkeiten und Räumen für den modernen Tanz, das Theater, Musik, Festivals und die Arbeiten der Kulturprojekte GmbH gewandelt habe. Als Volker Ludwig 2008 mit dem Senat verhandelte, anstelle der Schiller-Werkstatt einen neuen Standort im Osten der Stadt ins Auge zu fassen, begriff van Dülmen das als Chance. Er bot sein Haus in der Klosterstraße als Standort an. Mit dem legendären Kinder- und Jugendtheater könnte „ein junges Publikum nach Mitte gebracht werden“, das sich „produktiv“ auf die einstige Podewil-Bühne und das Umfeld auswirken dürfte, so seine Hoffnung.

Das Grips hat er nun. Es gibt Vorstellungen am Vormittag, Theater am späten Nachmittag und abends. Ob es klappt? „Fragen Sie mich nach einem halben Jahr“, meint van Dülmen.

Die Chance stehen nicht schlecht. Das Grips Theater könnte mit dem zweiten Standbein im Ostteil der Stadt die Aufwärtstendenz im Podewil beschleunigen – und zugleich sein eigenes Image polieren. Am Hansaplatz war das Grips lange eine aufsässige und aufklärerische Institution gegen das Westberliner Establishment gewesen. Diese Zeiten sind vorbei.

Nahe dem Alexanderplatz liegen andere Stoffe auf der Straße. Die grüne Kulturexpertin Alice Ströver – und mit ihr alle Fraktionen im Abgeordnetenhaus – ist der Überzeugung, dass das „zweite Grips-Standbein im Osten eine richtige Entscheidung ist“ – die auch den Kulturprojekten dient.

Selbst in der Branche fürchtet man das Grips Mitte nicht. Das Theater an der Parkaue, Berlins größtes Kinder- und Jugendtheater, hatte anfangs wohl etwas eifersüchtig auf den neuen Standort geschaut. „Konkurrenz belebt das Geschäft“, sagt heute Kay Wuschek, Intendant an der Parkaue, und leugnet die Rivalität nicht. „Aber wir sehen die Eröffnung eines zweiten großen Kinder- und Jugendtheaters in Mitte nicht als Problem für uns.“ So gebe es etwa keine Überschneidungen beim Spielplan, „unser Profil ist ja ein ganz anderes“. Dennoch dürfe man nicht vergessen, „dass wir die gleiche Klientel haben“, ergänzt seine Sprecherin Sabine Hertwig. Aber das Grips bringe „auch Besucher aus dem Westteil der Stadt mit hierher“.

Will sagen: Mit „Lilly unter den Linden“ machen dann auch die Westkids rüber. Bei so viel umgekehrter Republikflucht kann ja nichts schiefgehen.