Die kranke Seele der Republik

In Wolfsburg, der Stadt des Volkswagens, war die soziale Marktwirtschaft immer ein bisschen sozialer als im Rest der Republik. Bis Kanzler Gerhard Schröder und VW-Personalchef Peter Hartz die Stadt zum Symbol der Deutschland AG stilisierten. Seither steht Wolfsburg Modell für die Krise

Die Volkswagen AG ist Abbild der Deutschland AG. Kriselt es in Wolfsburg, kriselt ein ganzes Land

VON CLEMENS NIEDENTHAL

Hitlers Bilderbauer Albert Speer hatte in Wolfsburg eine pathetische Stadtkrone geplant. Hans Scharoun baute dort nicht einmal zwei Jahrzehnte später ein lichtes Theater. Alvar Aalto ein Kulturhaus, das den freundlichen Gestus skandinavischer Formensprache atmete. Gunter Henn realisierte hier zur vergangenen Jahrtausendwende die Autostadt mit viel Grün und viel Glas, gleichsam ein automobiles Phantasialand und eine ehrgeizige Metapher für die so genannten postindustriellen Verhältnisse. Und gerade noch werkelt man gleich neben ICE-Trasse und Mittellandkanal am Science Center der iranischen Stararchitektin Zaha Hadid – an einem Ort, so die Vorstellungen der Volkswagen AG, in den einmal die Wissensgesellschaft einziehen soll.

Wolfsburg hat seine mentale Verfassung immer wieder in Stein gemeißelt und in Beton gegossen. Hat die Wände erzählen lassen, welche Gedankengebäude hinter ihnen konzipiert und konsumiert wurden. Wolfsburg war die Stadt des Volkswagens, das Traumbild einer nationalsozialistischen Automobilmachung. Und es ist rückblickend wohl als ein Geschenk der Geschichte zu betrachten, dass außer der noch heute dominanten achsialen Stadtplanung und einer schmucken Siedlung im agrarromantischen Heimatschutzstil nur wenig an den Gründungsmythos der Automobilfabrik erinnert. Und dass nur ein paar spezifisch Interessierte im Namen der Stadt den Spitznamen des Führers vermuten. Dass dem nicht so ist, kann indes als sicher gelten. Wolfsburg benennt sich nach einem gleichnamigen Schloss aus dem späten 16. Jahrhundert, von dem man bis in die Dreißigerjahre hinein auf eine vorwiegend agrarisch geprägte Landschaft blickte. Bis der Nationalsozialismus den Volkswagen erfand. Und Ferdinand Porsche den „Käfer“ entwickelte.

Das Wolfsburg, das man noch heute jenseits von Autostadt, ICE-Haltepunkt und Science Center findet, ist hingegen eine Erfindung der Fünfzigerjahre. Eine Erfindung des Wirtschaftswunders, wenn man so will. Und doch eine ganz andere, für die westdeutschen Verhältnisse ziemlich einmalige Erzählung. Denn in Wolfsburg war die soziale Marktwirtschaft immer noch ein bisschen sozialer. Und in Wolfsburg blieb privates Wohneigentum ein Tabuthema, auch als sich ein christlich-konservatives Bundesbauministerium mit dem Slogan „Eigentum schafft gute Demokraten“ daran machte, gerade aus dem Milieu der Facharbeiter bausparende Häuslebauer anzuwerben. Hier baute der Konzern für seine Bürger.

Wolfsburger und Wolfsburgerinnen wohnten auf dem Klieversberg oder in Detmerode. Sie wohnten in einmal mehr skandinavisch inspirierten Trabantenstädten mit mehrgeschossigen Wohnhäusern und seriell drapierten Bungalows, jeweils gruppiert um ein quasi sozialdemokratisches Forum, bestehend aus Schul- und Kindergartenbauten, Jugend- und Stadtteilzentren. Noch bis in die Neunzigerjahre hinein war Wolfsburg die Stadt mit der größten Bibliotheksdichte Europas, wahrscheinlich sogar der Welt.

In den Neunzigerjahren aber verzeichneten gerade die weniger liebevoll gestalteten Wohnsilos aus den Siebzigerjahren einen Leerstand von über 40 Prozent. Viele VW-Facharbeiter hatten sich längst ihr Reihenhäuschen in den Neubaugebieten jenseits der Stadtgrenze zusammengespart. Vorstand und Management lebten und leben ohnehin zumeist um die Ecke im historisch gewachsenen Braunschweig. Nicht in der Retortenstadt des Volkswagens. Auch Vorstandschef Bernd Pischetsrieder kommt, wie sein Vorgänger Ferdinand Piëch, jeden Morgen im Phaeton aus Braunschweig angebraust.

Denn die Foren der Spätmoderne, sie sehen anders aus. Und das weiß niemand besser als Gunter Henn, Hausarchitekt und Westentaschenphilosoph der Volkswagen AG, Schöpfer der Gläsernen Manufaktur in Dresden wie der Wolfsburger Autostadt: „Wer sonst bietet noch Orientierung, wo bleiben wir mit unserer kindlichen Religiosität? Die Kirchen sind tot, der Staat zieht sich zurück, die großen Ideologien haben ihre Macht verloren. Was bleibt, sind die Unternehmen, sie werden die Sinnstifter der Zukunft sein.“ Und so sieht Henn die Kathedralen der Zukunft, wenn schon nicht wie der Philosoph Roland Barthes im Automobil, so doch in dessen Präsentationsstädten.

In einzelnen Abteilungen des VW-Konzerns, so ist in diesen Tagen zu hören, erhöht sich gerade auf junge, hoch qualifizierte Mitarbeiter der interne Druck, endlich der IG Metall beizutreten – soziale Kontrolle, ausgeübt von ranghöheren, altgedienten Mitarbeitern, die vielleicht schon auf das verweist, was da in Bälde kommen wird: ein Arbeitskampf, in dem nicht nur die Zukunft von Wolfsburg, nicht nur die Zukunft von Volkswagen verhandelt wird. Denn die Volkswagen AG, und das hat der Touran-Fahrer Gerhard Schröder schon zu seinen Zeiten als niedersächsischer Ministerpräsident zu kommunizieren gewusst, ist immer auch maßstäbliches Abbild der Deutschland AG. Kriselt es in Wolfsburg, kriselt auch ein ganzes Land. So war es 1974, als sich die Bundesrepublik während der Ölkrise vom Mythos der industriellen Vollbeschäftigung verabschieden musste. Und Volkswagen von der Legende, auf ewig vom in die Jahre gekommenen VW-Käfer und seinen Ablegern zehren zu können. So war es in den unmittelbaren Nachwendejahren, als die Landschaften partout nicht erblühen wollten. Und die Limousinen und Kombiwagen in den Einfahrten der Reihenhaussiedlungen immer älter wurden. 2004 nun wird ein durchschnittlicher Personenkraftwagen annähernd zwölf Jahre am Laufen gehalten. So lange wie noch nie in der automobilen Geschichtsschreibung dieses Landes.

Doch auch umgekehrt wurde ein Schuh draus. 1998, im Jahr von Neuem Markt und Neuer Mitte, von Ron Sommer und Gerhard Schröder, präsentierte die Volkswagen-Tochter Audi den Mittelklassesportwagen TT. Und lieferte ein von harmonischen Rundungen geprägtes, silbernes Chiffre für die neuen Mittelklasseeliten der Berliner Republik. Bis zu 12 Monate mussten IT-Spezialisten und Hobby-Börsianer damals auf den gefragten Wagen warten. Ungefähr die Zeitspanne, spötteln Branchenkenner, die ein unverkaufter Neuwagen im Jahr 2004 beim Händler steht.

Der Deutschlandfunk war es, der schon bald eine Genereation TT verortete. Rainald Goetz, der dem ästhetisierten Audi in seiner Erzählung „Dekonspiratione“ ein zweifelhaftes Denkmal setzte: ein oberflächlicher Wagen – unter seiner sportiven Hülle war der Audi TT dank der Plattformstrategie des Volkswagenkonzerns ein ganz profaner VW-Golf – als Sinnbild für die oberflächliche Aufbruchstimmung einer kurzen, längst historisierten Epoche, in der sich allerdings das Bild des Konzerns wandeln sollte. Und damit auch das Bild seiner Stadt. „Einst war die Stadt vorrangig der Ort der Produktion und der Realisation von Ware, der Ort industrieller Konzentration und Ausbeutung. Heute ist er vorrangig der Ort der Exekution des Zeichens“, schreibt der französische Philosoph Jean Baudrillard in seinem Essay „Cool Killer oder der Aufstand der Zeichen“. Und es scheint die postfordistische Profession Wolfsburgs, diesem Diktum näher zu kommen als jeder andere hiesige Ort.

Denn in Wolfsburg ist die Automobilfabrik, der Ort der Produktion und Realisation der Ware Automobil, buchstäblich aus dem Blick gerückt. Genau zwischen Stadt und Fabrik, mitten hinein in die historische Sichtachse, die von der zentralen Geschäftsstraße direkt auf die Fabrikschlote blicken ließ, hat sich die Autostadt geschoben. Ein auf sanften Hügeln dahinwogender Themenpark samt Museum, 360-Grad-Kino und Wohlfühlgarantie. Ein paradigmatischer Ort der „Exekution des Zeichens“. Zeichenhaft wird in jener automobilen Erlebniswelt kommuniziert, was wenige hundert Meter entfernt produziert wird. Ebenso metaphorisch wie die Original-Werkskantinen-Currywurst im angegliederten Mövenpick-Restaurant den vermeintlich authentischen Lebensstil der VW-Monteure zur Erlebnisgastronomie transformiert. Aus der Stadt der Produktion ist längst eine Stadt des Produkts und seiner Präsentation geworden.

Das Auto, so hat es Bazon Brock einmal formuliert, sei eine „beseelte Materie“. Und es scheint die Wolfsburger Autostadt, in der man mit hohem inszenatorischem Aufwand an der Seele werkelt, während weiter hinten in den Fabrikhallen die Materie zusammengeschweißt wird. Fraglich bleibt allerdings, ob an der gegenwärtigen Krise des Automobils, ob an der gegenwärtigen Krise von Volkswagen nun die Seele oder die Materie Schuld hat? Oder schlicht ihr Preis? Vielleicht aber auch eine säkularisierte Gesellschaft, die sich neuerliche Sinnstiftungen nicht von einem Autokonzern und dessen Hausarchitekten vorschreiben lassen will.