Das Leben bleibt eine Baustelle

Vor einem Jahr waren Ruderboot und Kanu die Hauptverkehrsmittel in Hitzackers Altstadt, und Dömitz wurde evakuiert.Ein Jahr nach der großen Flut sind die Wasserstände der Elbe so niedrig wie selten, aber die Flut hat ihre Spuren hinterlassen

von SANDRA WILDSORF

„Die Zeit eilt, teilt, weilt und heilt“, so steht es an einem alten Haus in Hitzacker über der Tür. Vermutlich seit Jahrhunderten. Aber wie lange braucht die Zeit zum heilen? In der Altstadt der Ortschaft, die im vergangenen Sommer komplett unter Wasser stand, sind kaum noch Folgen des Hochwassers zu sehen. Ein Haus musste abgerissen werden, an gleicher Stelle wird gerade ein neues gebaut. Hier und dort wird noch gestrichen. Im Rathaus und in der Kurverwaltung werden „Hochwasser T-Shirts“, die an den Höchststand von 7,50 Metern am 23. August 2002 erinnern, für 10 Euro pro Stück verkauft. In diesem August hat die Elbe so wenig Wasser, dass die Fähre nach Bitter nicht fahren kann. Hat die Zeit die Folgen der Flut geheilt? In den Seelen der Menschen noch lange nicht. Einige wollen gar nicht darüber sprechen: „Am besten nicht erinnern. Verdrängen und fertig“, sagt der Mann aus dem Zeitungsladen, der sich im vergangenen Jahr verzweifelt dagegen gewehrt hat, sein Geschäft einmauern zu lassen.

Wie und ob die Menschen das große Wasser verarbeitet haben, hängt auch vom Ausmaß ihrer erlittenen Schäden ab: Die alte Dame, die hier alle „die Frau Möller“ nennen, wird beispielsweise täglich daran erinnert. Sie wohnt in der vordersten Häuserfront mit Elbblick und hat jetzt nur noch einen Raum, der richtig trocken ist, ihr Wohnzimmer. „Im Altersheim hätte ich schließlich auch nur ein Zimmer“, tröstet sie sich. Die Tochter habe ihr zwar noch einen neuen Kleiderschrank versprochen, aber die hat ja selbst so viel zu tun. „Der gehört der Campingplatz in Laasche.“ Monatelang hätte sie im Wohnwagen auf der Straße gelebt. Nun sei der Campingplatz einigermaßen wieder hergestellt, das Privathaus aber noch lange nicht.

Auch das Haus von Margarethe und Richard Schacht ist bis heute nicht, was es war. „Man hat ja nicht unendlich viel Zeit, muss ja auch Geld verdienen“, sagt der Handwerker, der von seinem Chef zwei Tage hochwasserfrei bekommen hat und seinen Jahresurlaub vorziehen durfte. Trotzdem: Das Bad muss noch erneuert, die Risse in den Wänden müssen noch geschlossen werden. Und wo es im Innenhof früher üppig blühte, wagen zarte Pflänzchen einen Neuanfang.

Das Schlimmste kam, als das Wasser weg war

Dabei hatten die Schachts ihr Haus gerade erst fertig: „Die letzte Schraube war angezogen“, erinnert sich Richard Schacht. Eine neue Küche, tapezieren, alles mal komplett renovieren – jahrelang hatten sie darauf gespart. Und dann stand plötzlich die Elbe 60 Zentimeter hoch in ihrem Zuhause. „Jedenfalls kann ich jetzt sehr schnell Küchen auf- und abbauen“, sagt Schacht. Tapeten, Wände, Holzfußböden konnte er allerdings nicht einfach auf den Dachboden bringen.

Die Schachts erzählen, wie das Schlimmste kam, als das Wasser und die Kameras weg waren: Da war die entsetzliche Mückenplage, ein kaum auszuhaltender Gestank nach Moder und eine graubraune Schlammschicht, die Pflanzen erstickte und alle Farben verdüsterte – und dann über Wochen diese Hitze und das dröhnende Geräusch der Trockenmaschinen. „Es war unerträglich“, sagt Margarethe Schacht. Vier Monate haben sie bei ihren Kindern gewohnt.

In Hitzacker gelten die Schachts als welche, die noch Glück gehabt haben, weil sie versichert waren. „Da war ich wohl der einzige“, sagt Richard Schacht. Der Haken ist nur: Versicherungen versichern Bewohner von Hochwassergebieten höchst ungern gegen Hochwasser. Und wenn sie es doch tun, dann gegen horrende Prämien oder mit horrendem Selbstbehalt. Die Schachts hatten sich für letzteres entschieden.

Obwohl sie schon seit 30 Jahren hier leben waren sie nach dem Hochwasser so verzweifelt, dass sie ans Umziehen gedacht haben. „Wenn jemand käme und mir 200.000 Euro anbieten würde, würde ich sofort auf den Berg ziehen“, sagt Schacht. Aber das macht eben niemand. „Für das, was wir hierfür kriegen würden, könnten wir uns woanders nichts kaufen. Und das ist doch auch unsere Altersversicherung.“ Deshalb hilft nur bleiben und hoffen, dass es ein solches Hochwasser nie wieder gibt.

Oder darauf vertrauen, dass die Stadt etwas unternimmt, damit das Wasser keine so immensen Schäden mehr anrichten kann. Denn das geht. Von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt hatten die Elbbewohner nämlich im Januar schon wieder Hochwasser. Das lag etwa 50 Zentimeter niedriger als die Sommerflut. Aber die Stadt Hitzacker stellte mobile Spundwände mit Sandmatten auf, und die Altstadt blieb weitgehend trocken. Mancher Bewohner fragt sich nun: „Warum nicht gleich so?“ Richard Schacht findet: „Die Stadt ist in unserer Schuld, sie haben ja eindrucksvoll demonstriert, dass es geht. Nochmal können die uns nicht so absaufen lassen.“

Spundwände und Deiche sollen Fluten verhindern

Tatsächlich hat die große Flut in Stadt und Land ein Umdenken bewirkt. „Nach der Wasser- kam die Papierflut“, sagt Sabine Ringel, Leiterin des Bau- und Ordnungsamtes der Samtgemeinde Hitzacker. Plötzlich hätten diverse Unternehmer ihre diversen Methoden angeboten, die Stadt gegen Hochwasser zu schützen. Als im Winter das Wasser erneut unaufhörlich stieg, „haben wir in einer Hauruck-Aktion mobile Spundwände angeschafft“, erzählt sie. Die Gestänge, zwischen denen riesige mit Sand gefüllte Stofftaschen hängen, haben tatsächlich geholfen. Hätte das nicht schon im Sommer das Schlimmste verhindern können? „Wir hatten die Module nicht. Vermutlich hätten sie auch nicht gereicht.“ Vor allem aber hätte sie vorher wohl keiner angeschafft, „weil niemand ein solches Hochwasser für möglich gehalten hätte“.

Doch weil die sehr aufwendig auf- und abzubauenden Wände keine Dauerlösung sind, hat die Gemeinde Hitzacker nun Hochwasserschutz beantragt und ist dem Jeetzel-Deichverband beigetreten. Demnächst sollen die Ergebnisse einer Machbarkeitsstudie vorliegen und dann soll entschieden werden, wie es weitergeht. Ein Mündungswerk an der Jeetzel ist ebenso denkbar wie eine Deicherhöhung um alle betroffenen Ortschaften. „Mit dem Bau wird wohl im nächsten Jahr begonnen werden“, sagt Ringel.

Dieter Schünemann ist einer von denen, die die Sache mit dem Wasser höchst gelassen sehen. Er hatte sich die Wohnung am Wasser als Altersruhesitz ausgesucht und gerade mal vier Wochen hier gewohnt, als die DLRG ihn per Schlauchboot abholte. Sie brachten ihn auf einen Hof, etwa drei Kilometer weiter. „Ich dachte, ich würde da zwei Wochen bleiben“, erzählt er. Doch es wurden zwei Monate. Immerhin hat er durch den Ausnahmezustand viele Leute kennen gelernt. „Wir grillen heute noch ab und an zusammen.“ Schünemann hatte Glück: „Ich wohne hier nur zur Miete, und der Vermieter hat alles renovieren lassen.“ Also ist er Ende November einfach wieder eingezogen und fürchtet sich auch nicht vor künftigen Hochwassern, „dann gehe ich wieder. Das ist hier eben wie auf einer Hallig.“

Das Problem von Hitzacker ist eines, das man eigentlich von der Quelle bis zur Mündung betrachten müsste. „Es geht doch nicht, dass jeder seine Deiche oder Mauern einfach immer weiter erhöht und hofft, dass es dann eben woanders rüberkommt“, sagt Schacht und meint damit auch die „da drüben“.

Die auf der anderen Elbseite sehen das natürlich anders und mokieren sich eher darüber, „dass die in Hitzacker keinen Deich haben wollen“. In Dömitz beispielsweise gibt es nämlich einen Deich, und der hat gehalten. Nach zwei Tagen Evakuierung sind die Menschen zurückgekehrt, haben die Dinge wieder von oben nach unten getragen und vor lauter Erleichterung Sandsackpartys für Fluthelfer und -opfer veranstaltet. „Wir haben noch nie so viel gefeiert wie in der Zeit“, sagt beispielsweise Monika Wilkens, die zwar in ihrem Elektroladen alle Geräte aufgebockt, aber doch nicht wirklich geglaubt hatte, dass das Wasser sie erreicht.

Zwei Menschen starben, als alles vorbei war

Auch Ilona und Hans-Georg Sachtleben waren einfach nicht gegangen, als Dömitz evakuiert wurde. Sie wollten ihr Haus nicht allein lassen. „Schlecht geschlafen haben wir allerdings schon und dauernd rausgeguckt, ob noch alles trocken ist“, erzählt er. Aber am Ende behielten sie Recht und waren froh darüber. „Noch zwei Wochen lang sind wir täglich mehrmals zum Deich gegangen und haben geguckt, ob der Pegel weiter gesunken ist.“ Irgendwann sind sie nicht mehr gegangen. Irgendwann war wieder alles normal. Fast. Denn auch wenn das Wasser nicht kam, es hatte doch Folgen.

„Zwei Menschen sind gestorben“, erzählt Ilona Sachtleben. Es war, als eigentlich alles vorbei war, beim Aufräumen. Der eine wollte nur noch eine Fuhre Sandsäcke wegbringen, da ist er einfach umgekippt. Tot. Und auch bei dem anderen hat das Herz nicht mehr mitgemacht. „Das war wohl alles zuviel.“ In Dömitz hat das Wasser kein Haus beschädigt. Die Menschen loben den Zusammenhalt.

In Hitzacker tun sie das auch, aber die Solidarität wurde hier auf eine härtere Probe gestellt. Und so gibt es auch andere Töne. „Not kann auch entzweien“, sagt beispielsweise Margarethe Schacht. Denn sie trennt die Ehrlichen von denen, die aus Katastrophen Kapital schlagen: „Manche haben Schäden angegeben, die gar nicht durch das Hochwasser entstanden sind.“ Deren Häuser seien jetzt schöner, als sie jemals waren.