Ausbruch aus der Käseglocke

Ärzte diagnostizierten bei Tsewang eine „psychotische Verstimmung“. Sie sei eben „durchgeknallt“, sagt sie lapidar. Heute versucht sie ohne Medikamente zu leben – mit Hilfe des Projekts Support. Die Idee: Psychiatriebetroffene helfen Betroffenen

von MARTIN REICHERT

„Ich fühlte mich wie lebendig begraben“, erinnert sich Tsewang K.* (25) an die Zeit, in der sie noch regelmäßig Psychopharmaka nahm: „Man nimmt alles wahr, fühlt aber nichts wahr“, sagt sie und zündet sich eine selbst gedrehte Frühstückszigarette an. Es ist zwei Uhr nachmittags, doch die letzte Friedrichshainer Nacht war lang.

Tsewang ist in indisch anmutende Gewänder gehüllt und thront im Schneidersitz auf dem Sofa im Wohnzimmer. Sie spricht im leicht gepresst wirkenden, coolen Jargon der Antifa-Hausbesetzerszene und wirkt dabei sehr selbstbewusst, keine Spur von Gedämpftheit, keine geweiteten Pupillen. Ein wenig aufgedunsen wirkt sie noch, eine nachhaltige Nebenwirkung der Tabletten: Seit März dieses Jahres nimmt sie das Medikament Zyprexa nicht mehr und kommt gut zurecht – wenn auch noch mit Hilfe von Support, einer nichtpsychiatrisch orientierten Einzelfallhilfe.

Seit Ende letzten Jahres betreuen sieben Helfer dieses Berliner Projekts, rund ein Drittel von ihnen ist selbst psychiatriebetroffen. Sie sind so genannte Psychotiker, die sich entschieden haben, ihr Leben auch ohne Tabletten in den Griff zu bekommen.

Tsewang hat mittlerweile eine eigene Wohnung, hält sich aber meistens bei ihrem Freund Bernhard in der Pfarrstraße auf. Der ruhigen Seitenstraße mit ihren Dreigeschossern ist nicht mehr anzusehen, das es dort einmal besetzte Häuser gab. Allenfalls die Einrichtung der bunt gestrichenen Zweizimmerwohnung erinnert daran: Dort wohnt das Paar zusammen mit einem Hund, einer Katze und einer Ratte, die wider Erwarten gut miteinander auskommen. Tsewang meint, dies sei in der Regel ein „reines Kommunikationsproblem, ganz wie bei den Menschen“. Bernhard war früher mit Männern zusammen, Tsewang eher mit Frauen, „wir treffen uns auf der androgynen Ebene“, sagt Tsewang und streicht sich grinsend über das kurze Haar. Nur konsequent, dass ihr Freund einen Pferdeschwanz trägt.

Tsewang braucht ihre Support-Helferin Kerstin T. (31) weniger, um persönliche Probleme zu besprechen – das macht sie lieber mit ihrem Freund, obwohl der selbst schon psychische Probleme gehabt hat und es ihm auch manchmal „zu viel wird mit Tsewang“. Diplompädagogin Kerstin kommt zweimal die Woche mit einer großen Kladde unter dem Arm, um ihr bei den Herausforderungen des Lebens zu helfen, die Tsewang absolut nicht in den Griff bekommt: dem Gang zu Ämtern und zur Bank. Tsewangs Street Credibility – sie hat jahrelang auf der Straße und in besetzten Häusern gelebt – kommt weder bei Angestellten des Bezirksamts Friedrichshain noch bei Bankangestellten besonders gut an. Die in solchen Fällen geforderte höfliche Langmut ist ihr nicht gegeben. Da Tsewang sich der obskuren Binnenlogik von Ämtern und Institutionen mit ihren Anträgen, Stempeln und Fristen partout nicht beugen möchte oder kann, bewilligten diese ihr keine Gelder oder strichen Ausbildungsmaßnahmen.

Kerstin T. versucht Ordnung in Tsewangs Leben zu bringen, denn ohne regelmäßige Mietüberweisungen droht erneut die Obdachlosigkeit. Die Pädagogin hilft beim Ausfüllen von Formularen, geht mit zu Terminen und weckt Tsewang auch mal rechtzeitig, damit sie pünktlich erscheint. Teilweise regelt die Helferin Anträge auch allein. Kerstin T. weiß, dass es in puncto Behörden töricht ist, sich nicht in das Unabänderliche zu fügen, doch lässt sie nicht alles mit sich machen: Die Helferin ist selbst psychiatriebetroffen und hat mehrere Aufenthalte in Kliniken hinter sich: „Ich fühlte mich entmündigt und mit Tabletten vollgedröhnt. Mit 40 psychisch verwirrten Menschen auf engem Raum, das kann ganz schön eskalieren“, erinnert sie sich. Nie wieder Psychopharmaka, hat sie beschlossen.

Tsewang ist ihre erste und bislang einzige Klientin. Die Arbeit hilft ihr, sich ihrer eigenen Geschichte bewusst zu werden. Auch weil die Rolle der Helferin von ihr verlangt, Strukturen zu schaffen, die ihr selbst eine Zeit lang abhanden gekommen waren. Im Vergleich zu Tsewang wirkt Kerstin T. zierlich und zurückhaltend. Sie kommt kaum zu Wort, weil ihre Klientin ihr ins Wort fällt, kaum das sie einen Satz begonnen hat. Allerdings auch mit Bekenntnissen wie „Es ist schön, dass du mir hilfst, ich würde das sonst nicht schaffen.“

Tsewang muss schon seit ihrem 13 Lebensjahr allein klarkommen, kurz nach der Wende ist sie von zu Hause abgehauen: „Der Druck zu Hause hat sich auf mich übertragen, es war unerträglich. Seitdem bin ich regelmäßig einmal im Jahr durchgeknallt.“ Die Eltern waren im dissidentischen Milieu Ostberlins aktiv, ihre Mutter wurde vorübergehend inhaftiert. Tsewang erzählt, das sie deshalb im Alter von drei Jahren in ein nicht gerade von liebevoller Fürsorge geprägtes DDR-Kinderheim musste. Sie erinnert sich, dass ein Junge, der seine Bananenschale abgeleckt hatte, gezwungen wurde, diese aufzuessen. „Die Betreuerinnen haben ihm die Schale regelrecht in den Hals gestopft.“

Zwei Jahre später musste sie zurück in ihre Familie, von der sie sich bereits entfremdet hatte. „Traumatisch für ein Kind“, meint Tsewang rückblickend, „mir fehlt wohl das, was man Urvertrauen nennt.“ Als sie das erste Mal „durchknallte“, lautete die Diagnose der Ärzte „psychotische Verstimmung“. Für Tsewang äußert sich dieser Zustand unabhängig von Diagnosen als eine Phase, in der sie ihrer Umwelt ihre wahren Empfindungen ungefiltert mitteilt: „Das übliche Blatt vor dem Mund entfällt in solchen Momenten, auch wenn es mir hinterher oft Leid tut“, sagt sie. Mitunter führte das zu Schwierigkeiten mit ihren Mitmenschen – etwa mit Polizeibeamten, denen Tsewang vorwirft, sie misshandelt zu haben. Hier empfindet sie den Verlust an Glaubwürdigkeit, den die meisten „Irren“ zu beklagen hätten, als belastend: „Sogar meine Freunde glauben eher anderen als mir.“

Tsewang empfindet die Schubphasen zwar als anstrengend, weil alle „alle Infos frei flottieren und ungefiltert in mich reinfließen“, gleichzeitig begreift sie diese „Verrücktheit“ als einen heilsamen Prozess, in dem sie zu sich selbst zurückfindet.

Tsewangs Mitmenschen sind mit ihren unkonventionellen Bewältigungsstrategien oft überfordert. Auch in Hausbesetzerkreisen wirkt ein schamanischer Messertanz zwecks Abarbeitung von Aggressionen eher beängstigend. Tsewang wurde rausgeschmissen: „Bei denen gibt es eben auch sone und sone.“

Der Betreuungsjob fordere „wahnsinnig viel Kraft“, sagt Natascha Feld von Support. Die Behindertenpädagogin glaubt dennoch, dass es besser ist, psychisch Erkrankte intensiv zu begleiten und ihnen zuzuhören. Auch wenn das anstrengender ist, als Tabletten zu verabreichen.

Tsewang geht es besser, seit sie einen festen Freund hat, der für sie da ist. Momentan steht für sie die Frage im Vordergrund, was sie in Zukunft machen möchte. Eine Ausbildung im handwerklich-künstlerischen Bereich schwebt ihr vor. Andererseits braucht sie viele Auszeiten und kann zu viel Druck nicht verkraften. Seitdem sie die Tabletten weglässt, ihre Käseglocke verlassen hat, kann sie zumindest wieder ihrem Hobby nachgehen: der Malerei.

* Name geändert