Gelungener Abgang

Bei den Weltmeisterschaften im eigenen Land gelingtden Turnerinnen des US-Teams ein umjubelter Triumph

ANAHEIM taz ■ Der Pate des amerikanischen Frauenturnens lief zur Höchstform auf. „Das ist der größte Sieg, den eine amerikanische Riege jemals erreicht hat“, sagte Bela Karoly, und in seiner Stimme schwang Pathos. Kein Zweifel, der gebürtige Rumäne siedelte den Titel der amerikanischen Turnerinnen bei der Weltmeisterschaft im kalifornischen Anaheim ganz oben an in seiner Erfolgsbilanz. Die Rumänin Nadia Comaneci hatte Karoly einst zur ersten 10,0 der Turngeschichte geführt, Mary Lou Retton 1984 in Los Angeles zum ersten amerikanischen Mehrkampfsieg bei Olympischen Spielen, das Frauenteam zum Olympiasieg 1996 in Atlanta. Und jetzt diese Goldmedaille. Nie zuvor war ein US-Team Weltmeister geworden, erst am Vortag waren die US-Boys an China gescheitert. Ein historischer Tag für die 10.000 Fans im Arrowhead Pond, die Sternenbanner wehten, und bei der Hymne flossen Tränen.

Die Inszenierung hatte wirklich Hollywoodformat, denn die amerikanischen Turnerinnen hielten Rumänien und Australien deutlich auf Distanz, obwohl sich in den Tagen von Anaheim nacheinander drei der wichtigsten Akteurinnen verletzt verabschiedet hatten. Aber selbst die zweite amerikanische Garnitur war nicht zu schlagen an diesem Abend. Angeführt wurde das Team von der überragenden Chellsie Memmel, doch auch deren Kolleginnen Terin Humphrey, Carly Patterson, Tasha Schwikert und Hollie Vise schwangen sich während des Wettkampfes zu Höchstleistungen auf. „Das war die Prüfung für unser Trainingsmodell“, sagte Karoly, dessen Frau Marta die WM-Vorbereitung als Cheftrainerin geleitet hatte.

Die amerikanischen Turnerinnen hatten getrennt in den zahlreichen Turnzentren des Landes trainiert und waren nur alle vier bis sechs Wochen zu fünftägigen Trainingslagern im „Gym“ der Karolys in Houston/Texas zusammengekommen. „Sehr amerikanisch“ sei dieses Modell, befand Karoly, und einmalig auf der Welt. Alle anderen Nationen hatten vor der WM auf komplette Zentralisierung gesetzt. Sehr amerikanisch auch die Trainerhierarchie: Die US-Coaches hatten die Cheftrainerin aus ihrer Mitte gewählt. „Bei einem Misserfolg hätte ich vermutlich zurücktreten müssen“, sagte Marta Karoly. Jetzt sind die US-Girls auch bei den Olympischen Spielen in Athen die Favoritinnen.

Nur ein Zufall war freilich, dass ein Sponsor ausgerechnet für diesen Tag die wichtigsten Protagonisten des amerikanischen Turnsports nach Anaheim eingeladen hatte: Mary Lou Retton war da und Kurt Thomas, der Erfinder der Thomas-Kreisel. Dazu jene Männerriege, die mit ihrem Olympiasieg bei den Spielen 1984 einen „Goldrausch“ (Los Angeles Times) ausgelöst hatte. „Perfekte Planung“, sagte Bela Karoly, der sich zweifellos selbst zu den Koryphäen zählt. Von einer länger andauernden Dominanz wollte der Riese mit dem grauen Schnauzbart aber nichts wissen. „Wir werden auch in Zukunft Duelle zwischen den führenden Turnnationen haben“, sagte Karoly, der Rumänien, China und Australien auf dem Zettel hat.

Vor allem die Rumäninnen, Team-Olympiasiegerinnen von Sydney, werden diese Niederlage nicht auf sich sitzen lassen wollen. „Life is life“, sagte deren Cheftrainer Octavian Belu, der andere große Schnauzbartträger der Szene, „und das muss man akzeptieren.“ Klang ebenfalls verdächtig amerikanisch an diesem außergewöhnlichen Turnabend. JÜRGEN ROOS