Auch in Bagdad wird gegauckt

AUS BAGDAD KARIM EL-GAWHARY

„Sie lassen uns hier einfach den ganzen Tag in der Sonne und dem Staub stehen“, schreit Studienrat Muhammad mit hochrotem Kopf. Dabei versucht er, sich mit einer gelben Pappakte auf dem Kopf vor der Bagdader Mittagsglut zu schützen. Eine Frau neben ihm wedelt sich aufgebracht mit einem Aktendeckel Luft zu. Vor dem Tor der schwer bewachten grünen Zone, in der auch die neue irakische Regierung untergebracht ist, hadern mehrere Dutzend irakische Lehrer mit der Sonne und dem Schicksal.

Wegen ihrer Zugehörigkeit zu Saddams einst regierender Baath-Partei wurden sie aus dem Schuldienst entfernt – im Rahmen der „Entbaathifizierungspolitik“, die seit Kriegsende im Irak betrieben wird. Schon im vergangenen Oktober seien sie entlassen worden und bezögen seitdem keinerlei Einkommen, klagen sie. Jetzt fordern sie von der neuen irakischen Regierung Absolution. Die Frau mit wedelndem Aktendeckel stellt sich als ehemalige Leiterin der Kunstakademie vor. „Wir sind doch keine Verbrecher!“, ruft sie.

Genau dieser Frage soll Mithal Alusi nachgehen. Er ist so etwas wie der irakische Joachim Gauck und leitet eine Behörde, die sich „Kommission zur Entbaathifizierung“ nennt. Alusi, in obligatem Anmzug und mit Schnauzbart, sitzt in einem aufgeräumten Büro und umreißt seine Aufgabe so: „Wir müssen unterscheiden zwischen jenen, die in der Baath-Partei sein mussten, und jenen, die kriminell waren“, sagt er in fließendem Deutsch. Übrigens besteht gegen Alusi, der 26 Jahre in Hamburg gelebt hat, Haftbefehl in Deutschland, wegen der Besetzung der irakischen Botschaft in Berlin vor vier Jahren. Aber das ist eine andere Geschichte.

Über 50.000 Menschen wurden nach dem Krieg laut dem Entbaathifizierungserlass des US-Zivilverwalters Paul Bremer aus dem Staatsdienst entlassen. Fast 35.000 haben einen Antrag auf Wiedereinstellung gestellt, gut 10.000 wurden bisher überprüft. Jeder Fünfte wurde abgelehnt, der Rest ist inzwischen wieder zur Arbeit zurückgekehrt.

Nur Berichte geschrieben

„Es stimmt zwar, dass der Irak die Geisel der Baath-Partei war. Aber viele hatten keine Wahl, wir müssen diejenigen finden, die auch in einem neuen Irak keine Veränderung wollen“, sagt Alusi. Bei ehemaligen hochrangigen Baathisten gibt es keine Diskussion. „Die haben sich tagsüber geholt, wovon sie nachts geträumt haben“, sagt er. Die vielen, die einfach nur Berichte geschrieben haben, dürfen dagegen zurückkehren, so lautet die Regel, zumindest wenn ihre Spitzel- und Blockwartstätigkeiten nicht zur Ermordung von Regimegegnern geführt haben. Ironischerweise sind es jetzt gerade diese Berichte, die vielen Zuträgern zum Verhängnis werden. In Saddams Regime wurde jeder Vorgang preußisch genau dokumentiert. Die alten Akten der Sicherheitsdienste wurden inzwischen zum Teil ausgewertet und digitalisiert. „Jeder Antrag auf Rückkehr in den Staatdienst läuft bei uns jetzt durch den Computer“, erklärt Alusi stolz.

Sein Amt hat im Irak trotzdem nur wenige Freunde. Den einen, den Tätern und Mitläufern des alten Regimes, sind die Kriterien der Entbaathifizierung zu streng, den anderen, den Opfern von gestern, sind sie nicht streng genug. In der Behörde selbst wird kein Geheimnis daraus gemacht, wo die Sympathien liegen. „Baath = Nazi“, heißt es auf einem Computerausdruck, den sich jemand ins Büro gehängt hat. Auf den Gängen liegen Stapel mit Postern, die Massengräber zeigen und Menschen, die verzweifelt nach Angehörigen suchen.

„Nie wieder“, lautet das Motto der Behörde, doch dieser Tage ist ihr oberster Chef ein politisch frustrierter Mann. Der Präsident der Behörde, der einstige Kopf der größten Exiloppositionsgruppe, Ahmad Tschalabi, wurde wegen seiner zweifelhaften Rolle als Informant von den Amerikanern aufs politische Abstellgleis geschoben. Damit ist auch das Ansehen der Entbaathifizierungs-Kommission gesunken.

Der neue irakische Ministerpräsident Ajad Alawi hat ohnehin seine ganz eigenen Vorstellungen. Er möchte viele der alten Parteimitglieder im Rahmen eines Amnestieangebots wieder ins System integrieren. Am liebsten würde er die Behörde ganz schließen. Er hofft, damit den Irak zu befrieden, schließlich hätten sich nicht nur ehemalige Saddam-Offiziere dem Widerstand angeschlossen. „Wenn wir alles vergessen, was wäre das für ein Neustart“, entgegnet Alusi verbittert. „Dann hätte sich der Terror der letzten Monate bezahlt gemacht.“

Und dann zählt er ein paar einst hochrangige Baathisten auf, die in der neuen Regierung schon wieder in Amt und Würden sind, wie Alawis Sekretär Rasem al-Awadi oder der Polizeichef der Anbar-Provinz, Jaadan Duleimi, abgesehen von jenen irakischen Geheimdienstlern mit Aufgabenbereich Iran und Syrien, die längst von westlichen Diensten übernommen wurden. „Kein Kommentar“, lautet Alusis Kommentar dazu. „Sicher, wir hoffen alle, dass Alawi Erfolg haben wird. Aber er wird ihn nie bekommen, wenn er die Augen vor der Vergangenheit verschließt.“

Säcke voller Schnipsel

Abdel Asis al-Wandawi steht buchstäblich vor ihr – der Vergangenheit. Sie liegt in dutzenden prall gefüllten Säcken auf dem Gang vor seinem Büro gestapelt – in Form von Papierschnipseln, Formularen und alten Akten der Sicherheitsbehörden. „Das ist archäologische Arbeit“, sagt er. Al-Wandawi ist so etwas wie der oberste Ermittler der Kommission, letztlich entscheidet er, alle Anträge gehen über seinen Tisch. Dort liegen Vergangenheit und Zukunft der Lehrer vor dem Tor und der anderen Staatsbeamten fein säuberlich getrennt.

Rechts von ihm die Posteingangskiste mit den eingereichten Anträgen. Dort müssen die Antragsteller die Baath-Partei schriftlich verdammen und ihre ehemalige Tätigkeit für sie offen legen: den Rang in der Partei, das Einkommen, das sie über die Partei bezogen haben, und die Bestätigung, dass sie die dort erhaltenen Waffen abgegeben haben. Links befinden sich zwei Stapel: der von Antragstellern, die wieder zur Arbeit zurückkehren dürfen, und ein etwas kleinerer mit den Anträgen, die abgelehnt oder weiter überprüft werden müssen. Wer falsche Angaben gemacht hat, verliert nicht nur endgültig seinen Job, er wird auch einem Gericht überstellt.

Das, sagt al-Wandawi, sei die bürokratische Alternative dazu, dass die Opfer die Gerechtigkeit selbst in die Hand nehmen, dass sie alte Rechnungen auf die klassische Art begleichen – durch Blutrache. Vor kurzem kam das Gerücht auf, die Behörde werde wieder geschlossen. Innerhalb von zwei Wochen gab es 17 Meuchelmorde auf den Straßen Iraks.

Etwa hundert Akten schafft der hagere al-Wandawi jeden Tag auf weitaus friedlichere Art. Doch auch er hat für die Lehrer vor dem Tor wenig Verständnis. „Die Leute sind ungeduldig, weil sie vor zehn Monaten ihre Arbeit verloren haben. Aber was ist mit jenen, die unter Saddam für zehn Jahre keine Arbeit hatten oder ins Gefängnis gehen mussten?“, fragt er entrüstet. Wie alle Mitarbeiter spricht auch er aus eigener Erfahrung. Er selbst, einst Chef der irakischen zivilen Luftfahrtbehörde und später Chefingenieur bei Iraqi Airways, hat 1991 seine Arbeit verloren, weil er sich als nicht regimetreu genug erwiesen hatte.

Wie sehr er mit seiner eigenen Vergangenheit noch zu ringen hat, wurde ihm endgültig klar, als al-Wandawi plötzlich die Akte jenes Mannes vor sich liegen hatte, der damals an seiner Stelle den Job bei der irakischen Fluglinie bekam. „Zwei Tage lang habe ich die Akte auf meinem Schreibtisch liegen lassen. Ich wollte zunächst meine Emotionen kühlen“, erzählt er. Dann stimmte er der Rückkehr seines einstigen Widersachers zu. „Er rief mich danach an, um mir zu danken. Ich bat ihn, nie wieder mit mir Kontakt aufzunehmen.“ Die schwere Entscheidung rechtfertig er heute so: „Er war ein Opportunist, aber kein krimineller Baathist.“

Solche Objektivität traut al-Wandawi nicht allen Mitarbeitern zu. Darum will er, dass alle Entscheidungen über seinen Tisch gehen. Einmal hielt er auch die Akte eines Mannes in der Hand, von dem er glaubte, er habe ihm und seinem Sohn Drohbriefe geschickt. 100prozentig sicher war er sich aber nicht. Also musste er auch ihm Absolution erteilen. „Anders als zu Saddams Zeiten, als der Beschuldigte seine Unschuld beweisen musste, müssen wir heute seineSchuld beweisen“, sagt er.

Ins Gesicht gespuckt

Mit dieser Form der Gerechtigkeit haben viele Iraker noch Probleme. Sie wollen Rache. Erst vor wenigen Tagen hat jemand al-Wandawi auf offener Straße ins Gesicht gespuckt – diesmal weil er angeblich zu milde mit den Baathisten umgehe. Dabei hätte al-Wandawi allen Grund, etwas heimzahlen zu wollen. Sein Bruder hat über fünf Jahre in einem von Saddams Knästen verbracht. Als er rauskam, war er querschnittsgelähmt, kurz darauf starb er. „Er war zehn Jahre jünger als ich.“

Al-Wandawi macht eine kurze Pause und blickt auf die Aktenberge auf seinem Schreibtisch. „Mein Job ist es, die Baathisten wieder zur Arbeit zurückzubringen. Aber wer hilft ihren Opfern?“, fragt er. Das sei seine ganz persönliche Qual, mit diesen Widersprüchen leben zu müssen. Im nächsten Moment greift er sich an den Kopf und sagt: „Siehst du? Kein einziges graues Haar. Ich muss einfach meine Emotionen heraushalten und wie eine Maschine arbeiten.“

Versöhnung, Rache, Verachtung für Opportunisten: auf al-Wandanis Schreibtisch laufen alle Gefühle des neuen Irak zusammen. Zwischen Posteingangs- und Postausgangskiste kämpft ein Mann um die richtigen Entscheidungen. Iraks blutige Geschichte kann er dort kaum aufarbeiten, er kann höchstens zur Rechenschaft ziehen. Dabei plagt ihn ständig das Gefühl, die Falschen zu treffen und die Richtigen ziehen zu lassen. Auch wenn das seiner Meinung nach nur vorübergehend so wäre. „Denn am Ende“, sagt er und deutet an die Bürodecke, „gibt es für unsere Vergangenheit nur einen Richter.“