Zum Saufen in die Stadt? Warum?

Kolja Mensing hat’s erlebt: Die Jugend von Stolzenau bei Nienburg sehnt sich nicht im Geringsten nach Aufregung

Das Kursbuch „Provinz“ erschien im Jahre 1975. Damals wurde die Provinz gerade wieder „zu einem praktischen Problem der Linken“, wie es einer der Beiträge geradezu enthusiastisch analysiert: Die meisten jungen Akademiker, die vor wenigen Jahren noch in Berlin oder Frankfurt für eine neue Gesellschaft gekämpft hatten, waren mittlerweile durch die Seminarausbildung oder das Referendariat aufs Land verschlagen worden. Die Autoren des Kursbuchs mahnen an, diese Zeit nicht „als unabwendbares Durchgangsstadium“ anzusehen. Es gelte stattdessen, das „typische Zentrale-Provinz-Verhalten innerhalb der Linken zu erkennen und zu beseitigen“ und sich dann dem „praktischen Alltagskampf zu widmen“.

Viele teilten diese Überzeugung, und so entstanden auf den Dörfern und in den Kleinstädten in den kommenden Jahren Landkommunen und selbst verwaltete Jugendzentren, Biobauernhöfe und Ökoläden. Auch Helga, die heute in der 6.000-Seelengemeinde Stolzenau bei Nienburg am Gymnasium Französisch und Deutsch unterrichtet, ist damals von der Stadt aufs Land gezogen. „Ganz bewusst“, sagt sie, während wir uns in der großzügig mit hellem Holz eingerichteten Cafeteria ihrer Schule unterhalten. Helga gehört zu denjenigen, die vor zwanzig oder dreißig Jahren aus der Not eine Tugend machten und auf dem Land nach „alternativen Lebensentwürfen“ suchten und gleichzeitig eine gewisse Missionarstätigkeit aufnahmen: Während sie für eine aufgeklärtere und weltoffenere Provinz kämpfte, versuchte sie ihren Schülern ein Bewusstsein für das Leben jenseits der kleinen Verhältnisse zu vermitteln.

Heute hat sich der Elan etwas gelegt, und Helga stellt fest, dass die meisten ihrer Schüler für dieses andere Leben gar nicht zu begeistern sind: „Als ich eine Klassenfahrt nach Paris organisiert hatte, wollte niemand mit. Warum soll ich mir Paris ansehen, fragten die Schüler – hier ist es doch auch schön …“

Der Förderkreis des Gymnasiums Stolzenau hatte mich zu einer Lesung aus meinem Buch mit Geschichten über das Aufwachsen in der Provinz eingeladen. Der Titel „Wie komme ich hier raus?“ klang vielversprechend für die Eltern und noch mehr für die Lehrer, die sich offenbar von meinen Texten so etwas wie eine Schärfung des Fluchtinstinktes ihrer Schüler versprochen hatten. Helga und ihre Kollegen und Kolleginnen zumindest lauschten meinen Geschichten mit glühenden Wangen, während mir in der Cafeteria der versammelte zwölfte Jahrgang mit verschränkten Armen und misstrauischem Blick gegenübersaß. Selbst meine Beschreibung eines für das Landleben typischen Wochenendbesäufnisses, das ansonsten bei Lesungen wegen seiner drastischen Szenen zumindest eine gewisse Aufmerksamkeit erzeugt, stieß in Stolzenau nur auf ein gelangweiltes Schulterzucken. „Saufen tun wir hier auch“, meldete sich ein junger Mann zu Wort. „Aber warum sollte man darum später in die Stadt ziehen?“ Einer jungen Deutschlehrerin wurde es schließlich zu viel. Entnervt sprang sie von ihrem Stuhl auf. „Jetzt mal Hand heben“, rief sie im schönsten „Hefte raus“-Ton: „Wer von euch will nach dem Abitur hier weg?“ Zögerlich heben zwei oder drei Schüler ihren Arm. „Mehr nicht?“ Die Lehrerin ist enttäuscht und hält eine kämpferische Rede darüber, wie das Leben in der Großstadt einen anderen Menschen aus ihr gemacht habe. „Super“, meldet sich daraufhin eine Schülerin mit einem feinen Gespür für Ironie zu Wort: „Und jetzt sind Sie hier gelandet.“

Ich bin ganz zufrieden. Am Morgen hatte ich in dem Schülermagazin Unicum Abi eine ganzseitige Anzeige von Siemens entdeckt, in der unter dem Motto „Go. Spin the globe“ Abiturienten für eine Ausbildung begeistert werden sollen: „Wie man heute die Welt erobert … Schule beenden. Bewerbung schreiben. Tasche packen. Und dann los.“ Oder auch nicht. Im Grunde genommen ist es doch recht beruhigend, dass sich ein gewisser Widerstand gegen diese Weltsicht regt, in der die Bemühungen engagierter Lehrer mit den zweifelhaften Interessen des Großkapitals verschmelzen. „Provinz ist ein gutes Wort“, erklärte Ernst Bloch 1975 im Kursbuch. Da hat er Recht.