Senkrechtstarter mit Talent zur Intrige

Der 34-jährige Sozialdemokrat und frühere Innenminister Stanislav Gross wird neuer Regierungschef in Tschechien

Als im vergangenen Jahr Henry Kissinger Prag besuchte, äußerte er den Wunsch, einen jungen, vielversprechenden tschechischen Politiker kennen zu lernen. Wen anders konnte man Kissinger präsentieren als Stanislav Gross – Innenminister, Kronprinz der tschechischen Sozialdemokratie und erst 33 Jahre alt? „Und wer genau ist dieser Kissinger?“, erkundigte sich Gross noch schnell, kurz vor dem Treffen.

„Ich bin eben kein großer Intellektueller“, gab Gross schon vor zwei Jahren offen zu. Dafür hat es der ehemalige Lokomotivführer weit gebracht: seit Montag ist er Ministerpräsident der Tschechischen Republik.

Das weite Feld der internationalen Politik wird er, trotz der Bekanntschaft mit Kissinger, nur mit Mühe begehen können. Fremdsprachen beherrscht er keine, abgesehen von ein paar Brocken Englisch. In seinen vier Jahren als Innenminister hat er es auch nicht nötig gehabt, über den Rand des böhmisch-mährischen Kessels zu schauen. Dass er die Welt jenseits von Böhmerwald und Erzgebirge dennoch wahrnimmt, lässt allein seine Verlautbarung zu, dass er sein großes Vorbild in Tony Blair gefunden habe.

Wie Blair und Gerhard Schröder will auch Standa Gross die neue Mitte erschließen. „Ob ich rechts bin oder links, ich will vor allem gesund bleiben“, erklärte er am Sonntag. Da war schon klar, dass er nach einer monatelangen Suche und Kulissenschieberei sein avisiertes Links-Mitte-rechts Kabinett würde bilden können. Dieses ist, bis auf ein paar personelle Änderungen, das alte. Da fragt man sich, wozu das ganze Theater um Vladimir Spidla, Gross’ Vorgänger, der nun in sicherer Entfernung in der Brüsseler EU-Kommission sitzt.

Die Antwort ist einfach: es ging um Macht. Gross wollte nach oben, seit er als 19-Jähriger der gerade wieder auferstehenden sozialdemokratischen Partei beitrat. Schnell wurde der pausbäckige Standa mit seinem Arbeiter-Background zum Vorzeige-Genossen. Die Partei und sein Parteibuch waren erst ein Jahr alt, da wurde er 1990 zum Chef in den Parteivorstand gewählt. Zwei Jahre später wurde er Abgeordneter des tschechischen Nationalrats, eine Art böhmisch-mährischer Landtag in der föderalistischen Tschechoslowakei.

Hätte die nicht kurz darauf aufgehört zu existieren, wäre Standas Karriere nicht ganz so schnell und steil verlaufen. Doch das politische Vakuum, welches der gesellschaftliche Umschwung in Tschechien hinterlassen hatte und das die Trennung von der Slowakei noch verstärkte, ermöglichten den schwindelerregenden Aufstieg des Stanislav Gross.

Sein Talent zur Intrige und sein Gespür für die richtigen Leute waren dabei behilflich. Gross setzte auf Miloš Zeman, der sein politischer Ziehvater wurde. Und dann ging es Schlag auf Schlag: Fraktionsvorsitzender, Vize-Parlamentsvorsitzender, Innenminister, Premier.

Bleibt die Frage, was aus ihm später werden soll, jetzt, wo er nicht mehr weiter nach oben kann. ULRIKE BRAUN