Johnny Rotten wohnt hier nicht mehr

Für die Punk-Rocker von heute ist „No Future“ vorbei, „Anarchy in the UK“ bedeutet für sie „aktives Handeln für die eigenen Ziele“. Findet jedenfalls der junge Punkrock-Manager Mirko Gläser, für den Punk die Grundlage einer Workaholic-Existenz ist

Im „Mosh-Pit“ entdeckte Gläser „eine Energie, die einfach gut war. Stagediven heißt ja im Grunde: Die Gemeinschaft trägt den Einzelnen.“

aus Hannover RALF NEITE

Möbel gibt es kaum in dem engen Zimmer in Hannover-Linden, dafür türmen sich an drei Wänden entlang Kartons. CDs, Papiere, Musikzeitschriften. Oben drauf die Boxen der Musikanlage, darüber noch ein restlos vollgeknalltes Pinnbrett und langweg Plakate von allen möglichen Punkbands. Mirko Gläser ist ein Musikverrückter, sein Leben gehört dem Punk. Einerseits.

Andererseits gehört Gläsers Leben der Arbeit. „Ich steh’ morgens um acht Uhr auf und mach bis zur Geisterstunde, ich bin der geborene Workaholic“, sagt der 24-Jährige. Dann erzählt er von seinen endlos vielen Jobs, die er alle zugleich betreibt: Neben dem Musikmanagement schreibt er Artikel für Internetmagazine, übernimmt Promotionaufträge großer Musikfirmen, studiert BWL, lanciert politische Aktionen gegen Rechtsradikale und schreibt einen autobiographischen Roman. Kein Wunder, dass der Teint ein bisschen blass ist. Hilft auch nicht, dass Mirko Gläser Vegetarier ist, nicht raucht oder trinkt, noch irgendwelche anderen Drogen nimmt. Doch was hat das alles mit Punk zu tun?

„Ich bin ja erst geboren worden, als sich die Sex Pistols schon aufgelöst hatten“, versucht er eine Erklärung. Der Reiz des Punk liegt für ihn nicht in bunten Irokesenfrisuren, schweren Stiefeln oder besprühten Lederjacken. Die zentrale Botschaft sei vielmehr: „Zieh dein eigenes Ding durch. Lass dir nicht von oben diktieren, was du tun oder lassen sollst!“ „Klassische“ Punks leiten daraus eine pessimistische Lebenshaltung ab, Gläsers Schluss ist ein anderer: „Aktives, verantwortungsbewusstes, vernünftiges Handeln für die eigenen Ziele.“ So viel zu den Pistols und “Anarchy in the UK“.

Wenn nicht die Punk-Heroen der 70er, welche Bezugspunkte hat Gläser dann? Vor allem die Eltern. „Wenn es nach denen ginge, wäre ich jetzt Steuerberater oder Stahlarbeiter.“ Wie der Vater, der in einem Salzgitteraner Werk malocht. Fließbandarbeit, das berühmte Rädchen im großen Getriebe. 40 Jahre schon. Er wolle seinen Eltern beweisen, „dass es auch anders geht“, sagt Mirko Gläser. Und vor allem: „Ich möchte sehen, was ich mit den eigenen Händen mache.“

Nach drei Jahren als Mitarbeiter einer Hardcore-Konzertagentur hat er im vorigen Sommer seine eigene Firma gegründet: „11pm“- „one on one punkrock managment“ für „alles, was vom Schreibtisch her mit Musik zu tun hat“. One on one wie eins zu eins. Das bedeutet nicht, dass Gläser alles allein macht; er arbeitet mit Partnern in Deutschland und im europäischen Ausland zusammen und hat neuerdings einen festen Mitarbeiter, der das Internet-Magazin betreut. Doch die Fäden laufen bei ihm zusammen, in seiner „Büro-Wohnung“, die er mit seinem Mitarbeiter teilt.

„Im Grunde brauch’ ich nur ein Telefon und einen Computer, damit ich arbeiten kann“, sagt Gläser. Klingt weniger anstrengend als das Stahlwerk, aber so richtig aufregend? Nun ja. Der Gefahr, zum Schreibtisch-Täter zu werden, geht er dennoch konsequent aus dem Weg. Seine Schützlinge „Andthewinneris“ begleitet er regelmäßig zu Konzerten – statt Urlaub, den hat er seit Jahren nicht gehabt: „Mir gefällt das, auf Tour zu sein, auch wenn es sehr stressig und Augenring-fördernd ist.“

Stressig, na klar. Aber „es hat immer den Charakter eines Familien- oder Freundesausflugs“, hält Mirko Gläser dagegen, „und es ist meistens so, dass die Konzerte eine gegenseitige Euphorie hervorrufen.“ Das Pendeln zwischen den Städten, jeden Abend andere Gesichter, neue Freundschaften: „Das ist wie so’n Rausch ohne Alkohol.“ Nach wenigen Tagen sei die Alltagswelt nur noch bei Tankstopps existent, Verrücktheiten würden zum Normalzustand. Einmal ist das Mitglied einer argentinischen Band, die Gläser als Tourmanager begleitete, bei Tempo 120 durchs Schiebedach nach draußen geklettert. Nix passiert, Musiker haben Horden von Schutzengeln. Meistens.

„Da spüre ich, dass ich Teil eines Ganzen bin“, sagt Gläser, den genau dieses Gefühl vor zehn Jahren zum Punk gebracht hat. Das war im Jugendzentrum „Forellenhof“ in Salzgitter; dort im „Mosh-Pit“, der Meute vor der Bühne, hat er etwas gefunden, das ihm nur Punk-Konzerte gaben: „Eine Energie, die einfach gut war. Stagediven heißt ja im Grunde: Die Gemeinschaft trägt den Einzelnen.“

Er wäre auch gern Musiker geworden, hat aber nicht genug Talent dazu. Sagt er selbst. Statt dessen sei er nun „Offstage-Mitglied bei ‚Andthewinneris‘. „Ich habe den typischen Teen-Traum nie aufgegeben: Reich und berühmt werden – irgendwie daran teilhaben.“ Die Chancen, dass der Traum wahr wird, stehen nicht schlecht. Die auf seinem Label veröffentlichten Sampler „Pop Punk Loves You“ sind in der Szene ein Renner. „Andthewinneris“ werden zurzeit von Plattenfirmen umworben, zudem hat Gläser einen Japan-Deal abgeschlossen: CD und Tour im Herbst. Neu auf seiner Agenda ist die Europa-Vertretung für die amerikanischen Punk-Labels Sideonedummy und Dental Records, letzteres ein Projekt der Teenie-Lieblinge „Blink 182“.

Seit dem 12. Lebensjahr sei Musik das Wichtigste für ihn, erzählt Mirko Gläser, „Musik, die sehr schön ist und bei der man das Fenster öffnen kann.“ Und für einen kurzen Moment lehnt er sich zurück: „Es geht wirklich ganz gut voran.“