Der König der Flugscheiben

Der Diskuswerfer Lars Riedel würde bei der heute in Paris beginnenden Leichtathletik-WM gar zu gern zum sechsten Mal Weltmeister werden und so mit dem Stabhochspringer Sergej Bubka gleichziehen

von FRANK KETTERER

Der große blaue Ball klatscht mit einigem Getöse gegen die Wand. Einmal, platsch. Mit voller Wucht. Zweimal, platsch. Fast sorgt man sich um das alte Klinkermauerwerk. Dreimal, platsch. Der letzte war der härteste. Dann herrscht Ruhe in der großen Sporthalle in Kienbaum. Lars Riedel erhebt sich, wischt sich den Schweiß ab, der wie in Sturzbächen von der Stirn rinnt, schüttelt seine mächtigen Arme, dehnt ein wenig die breiten Schultern und schreitet gemächlich hinüber zum Holzkasten, wo er seine schwarze Sporttasche deponiert hat. Der Parkettboden knarzt unter den Schritten des Riesen, der trinkt einen Schluck aus der Pulle, wischt sich noch mal den Schweiß weg, diesmal mit dem Handtuch, versendet in aller Ruhe eine SMS, atmet tief durch, kreist nochmals die Arme, um sie locker zu machen – und kehrt zurück zum blauen Ball. Wieder knallen die drei Kilo gegen die Wand, wieder kann man bei jedem Wurf sehen, wie am Hals die Schlagader anschwillt, wieder legt Riedel in den letzten Wurf alles an Kraft, was noch in ihm steckt. Wieder tritt Ruhe ein in der großen Halle.

Karl-Heinz Steinmetz hat den Kraftakt aus sicherer Entfernung beobachtet und nickt zufrieden mit dem Kopf. Steinmetz ist ein großer Mann mit einem großen Bauch, den er mutig über der kurzen Sporthose trägt. Und er ist Riedels Trainer, seit zwölf Jahren schon. Steinmetz, das darf man also getrost feststellen, kennt den Diskuswerfer Lars Riedel wie kein anderer. Er hat ihn zu einem der größten Leichtathleten der Gegenwart gemacht, zum Olympiasieger und zum Weltmeister, fünf Mal. Kommende Woche in Paris könnte sich Riedel seinen sechsten WM-Titel erschleudern. Sechs Mal Weltmeister, dieses Kunststück hat in der Leichtathletik bisher nur einer zu Wege gebracht: Sergej Bubka, der große Stabhochspringer aus Russland. Karl-Heinz Steinmetz sagt: „So wie es im Moment läuft, sind wir auf einem guten Weg.“

Was immer das heißen mag, Lars Riedel möchte davon nichts hören. „Ich weiß, dass es so ist, aber ich beschäftige mich nicht damit“, sagt er und sieht dabei ein wenig mürrisch aus. So kurz vor der WM ist es nicht an der Zeit, an historische Taten zu denken. „Der ganze Krempel kann auch ablenken“, weiß Riedel. Ablenkung duldet er nicht. Dann sagt der 1,99-m-Hüne: „Natürlich ist man stolz auf das, was man erreicht hat.“

Zumal die Bedingungen für ihn gar nicht so optimal waren, wie man das annehmen sollte, wenn einer aus der DDR stammt und also aus einem der erfolgreichsten Sportfördersysteme der Welt. „Ich war dünn und schlaksig und sah auch in der 10. Klasse noch nicht aus wie ein Werfer“, erzählt der 36-Jährige grinsend. Den Kreisrekord im Schlagballwerfen bei den Zweitklässlern hat er dennoch aufgestellt – als Erstklässler. 48 m, die Marke gilt heute noch. Also haben sie beschlossen, einen Speerwerfer aus Riedel zu machen, später schließlich wurde umdisponiert auf Diskus. Riedel war dafür immer noch reichlich schmal, auf jeden Fall gab es Kerle, die das Ding weiter schleuderten. „Kraft kannst du dir später noch antrainieren“, sagt Riedel heute. „Aber du musst eine Art von Schnelligkeit haben, und die musst du versuchen auszuprägen.“ Die Trainer sahen das anders. „Aus dem wird nix“, stellten sie fest. Für DDR-Verhältnisse hieß das: kein Olympiasieger, kein Weltmeister. Die Optimalförderung wurde Riedel verwährt.

Dann kam die Wende – und für den Diskuswerfer Lars Riedel war sie, anders als für manch anderen Athleten aus dem Arbeiter-und-Bauern-Staat, auch sportlich ein Segen. Der Lehrer und Leichtathletiktrainer Karl-Heinz Steinmetz aus Dieburg bei Mainz erkannte das enorme Talent des Chemnitzers, eine Scheibe fachgerecht in den Himmel zu legen, nämlich auf Anhieb. „Der ist zum Diskuswerfen geboren“, hat Steinmetz das mal formuliert. Und wenn man den beiden heute mit dem Zitat kommt, schauen sie sich kurz an, lassen ihre Augen leuchten und grinsen sich eins. Vor zwölf Jahren haben sie begonnen, die größte deutsch-deutsche Sporterfolgsgeschichte zu schreiben: Der Wessi holt den Ossi zu sich nach Mainz, besorgt ihm Unterkunft und einen Halbtagsjob beim Landessportbund, damit der nicht mehr als Maurer auf dem Bau malochen muss, und macht ihn während der anderen Hälfte des Tages zu einem der größten Diskuswerfer aller Zeiten.

„Steinmetz und Mainz waren für mich damals ein Glücksfall“, sagt Riedel. Und er meint das nicht nur rein sportlich. Auch neben dem Diskusring haben ihm die zwei Jahre im Westen geholfen, sich besser und schneller als andere an die neue Situation zu gewöhnen, in der Deutschland damals steckte und ein bisschen ja immer noch steckt. „Ich musste in der DDR ja auch Theorien lernen, Marx und Engels und diesen ganzen Käse. Und dann kommt man in den Westen und erlebt, wie die ganzen Theorien bestätigt werden“, erinnert sich Riedel.

Er hat sich damit arrangiert, und das nicht nur, weil er aus der Diskuswerferei längst ein kleines, ganz gut gehendes Geschäft machen konnte. „Ich habe zwei Systeme kennen gelernt. Das ist ein Riesengewinn“, findet Riedel heute. Und er empfindet es als traurig, dass von dem einen System so manches nicht überlebt hat, obwohl es doch gut war, sehr gut sogar, gerade im Sport. „Ich habe nicht verstanden, warum ein Land wie Deutschland nicht versucht hat, einen Großteil der Sportschulen im Osten und die damit verbundenen Erfahrungen und Fördermöglichkeiten zu erhalten“, kann sich Riedel da richtig in Rage reden. „Mir kommt das immer so vor, als müsste man dann zugeben, dass das andere gut war.“ Bedauerlich findet Riedel das. „Weil viel verloren geht.“

Als Diskuswerfer hat er, der er alles gewonnen hat, längst nichts mehr zu verlieren. Vielmehr könnte es bei der WM im Stade de France tatsächlich noch ein gutes Stück mehr an Ruhm und Ehre werden, auch Riedel spürt das. Er merkt es an der Kraft, die jeden Tag ein bisschen mehr wird. Und wenn seine ganze Kraft am Ende da ist, all die Schnelligkeit und Explosivität, die es braucht, um eine Zwei-Kilo-Scheibe an die 70 m weit zu werfen und möglichst noch ein Stückchen darüber, dann wird auch seine Technik wieder da sein, da ist er sicher. Bisher war es immer so. Letztendlich, erklärt der Mann aus Chemnitz, kommt es beim Diskuswerfen nur darauf an: „Kraft und Technik müssen harmonieren.“ Sonst würde die Technik kaputtgemacht von der Kraft. Und beides muss, auch wenn man als Laie anderes denkt, zu einem Großteil aus den Beinen kommen. „Ein Wurf“, sagt Riedel, „kommt immer von unten.“ Oben, also Oberkörper und vor allem Arm, ist nur das letzte Element des schnellen Tanzes durch den Ring.

Das hört sich kompliziert an – und ist es auch. Physikalisch gesehen geht es darum, die Scheibe auf einem möglichst langen Weg möglichst schnell zu machen. Ein Diskuswerfer der Weltklasse, so haben es Biomechaniker nachgemessen, hat zwischen 10 und 11 Meter, um das Gerät auf eine Abfluggeschwindigkeit von rund 27 Metern pro Sekunde zu beschleunigen. Das ist ungefähr so, als würde man ein Auto auf zehn Metern von 0 auf 100 Stundenkilometer hochjagen. „Lars Riedel“, sagt Dr. Ronald Burger, Biomechaniker an der Uni Mainz, „kann mit die höchsten Abwurfgeschwindigkeiten produzieren.“ Das ist sein größtes Plus.

Lars Riedel sagt: „Das muss wie eine aufgespannte Schleuder sein. Und umso leichter es aussieht, umso besser ist der Wurf.“ Bei Riedel sieht es oft sehr leicht aus, manchmal so, als würde er gar nicht richtig werfen, zumindest nicht mit aller Kraft. „Wenn ein Wurf nach Kraft aussieht, ist er meistens nicht gut“, weiß der Chemnitzer.

Vielleicht wirkt Riedel im Ring auch deshalb anders als alle anderen: Weil seine Würfe, trotz aller Kraft, etwas von Leichtigkeit ausstrahlen, von Eleganz. Wenn der 36-Jährige den Ring betritt, 1,99 m groß, durchtrainierte 115 Kilogramm schwer, ausgestattet mit einer Spannweite von 2,14 m, sieht er aus wie eine dieser griechischen Diskuswerfer-Statuen, und man erkennt schon von weitem, dass nur er es sein kann: der König der fliegenden Scheiben. Dass Riedel aufrechter im Ring steht als die Konkurrenten, lässt den breiten Oberkörper noch breiter scheinen und unschlagbarer – und bisweilen verfehlt das auch bei der Konkurrenz, allesamt ja keine schmächtigen Burschen, nicht die Wirkung. „Manchmal“, sagt Riedel, „merke ich richtig, wie die sich ducken.“

Dabei muss sich der 36-Jährige gelegentlich über sich selbst wundern: dass es ihm tatsächlich immer noch gelingt, so weit zu werfen, weiter zumindest als die anderen. „Natürlich wird es im Alter schwieriger“, sagt Riedel. Aber genau daraus zieht er auch seine Motivation: „Es ist einfach spannend zu sehen, ob ich meinen Körper trotz des Verschleißes noch mal dazu kriege, weit zu werfen.“ Und der Verschleiß ist enorm nach über zwölf Jahren in der Weltspitze. Der Rücken bereitet immer wieder Probleme, der Lendenbereich nicht minder, hinzu kommen Schulter und Knie. Es sind ja auch unglaubliche Kräfte, die auf Knochen und Muskeln wirken, wenn einer zwei Kilo auf 100 Stundenkilometer beschleunigt, rund 4.000-mal im Jahr macht Riedel das.

Kniebeugen sind ihm seit 1992 nicht mehr möglich, das Reißen von Gewichten seit 1994. Beide Übungen gehören zum Standard-Trainingsrepertoire im Training eines Diskuswerfers. Dass einer ohne sie auskommt, ist eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit. Riedel lacht nur. Und sagt: „Es gibt bei mir so viele Übungen, die im Training nicht mehr gehen.“ Muss er halt die machen, die sein Körper noch aushält. Im letzten Jahr waren nicht einmal diese möglich. Der Rücken versagte den Dienst, sogar die EM im eigenen Land musste Riedel absagen. „Meine letzte beschwerdefreie Saison hatte ich 1996/97“, erinnert sich der Chemnitzer, nicht zufällig rührt auch seine Bestweite (71,50 m) von damals.

In diesem Jahr hat Riedel 69,50 m stehen, geworfen im Mai. Das könnte in Paris reichen, muss es aber nicht, die Weltrangliste jedenfalls wird von dem Ungarn Robert Fazekas mit 70,78 angeführt. Beeindrucken lässt sich der Deutsche davon nicht. „Letztendlich geht es darum, auf den Punkt topfit zu sein“, sagt Riedel. Bisher hat er das immer ganz gut hingekriegt; darauf setzt er auch diesmal. „Außerdem“, sagt der König der Scheiben, „weiß ich, wie man gewinnt; und ich weiß auch, dass die anderen wissen, dass ich das weiß.“ Lars Riedel nennt das den „Bubka-Effekt“. Er meint damit jenen Bubka, der einen Weltmeistertitel mehr hat als er. Noch.