Interkulturelle Gedächtnisarbeit

Türkischsprachige Führungen im Kölner NS-Dokumentationszentrum „EL-DE-Haus“ sollen Migranten ein dunkles Kapitel deutscher Geschichte näher bringen und aufzeigen, wie aus „ganz normalen Deutschen“ Täter wurden. Eine Geschichtsstunde mit Zeitzeuge im ehemaligen Folterkeller der Gestapo

„Migranten sollen lernen, die Bundesrepublik richtig zu verstehen“

von SEMIRAN KAYA

Neugierig und aufgeregt stehen Meltem und Hakan vor einem historischen Gebäude in Köln. Eine 70-jährige Oma, ein armenischer Türke und eine Mutter mit ihrem Baby im Kinderwagen. Insgesamt zehn Migranten mustern mal die Runde, in der sie stehen und mal das alte Gebäude vor ihnen. Ein Gebäude, das für Meltem und Hakan irgendein beliebiges Haus darstellt. Ungeduldig verlagern sie ihr Gewicht vom einen Bein auf das andere und wollen endlich dieses Haus von innen sehen. Sehen, was es bietet. Nie wären sie, die Oma oder die Kinderwagen schiebende Mutter auf die Idee gekommen, sich als türkische Migranten eine Ausstellung über die deutsche Geschichte und schon gar nicht über den Nationalsozialismus anzuschauen. Jetzt aber stehen sie vor dem NS-Dokumentationszentrum „EL-DE-Haus“ und wollen etwas über die deutsche Vergangenheit erfahren, weil die Führung auf Türkisch ist.

Aufgeregt ist auch Dogan Akhanli, der die Führung vornehmen wird. Nie weiß er, ob und wie viele kommen werden. Jeder erste Sonntag im Monat ist für ihn eine neue Herausforderung. Dann nämlich sieht er, wie viele Landsleute er für diese ungewöhnliche Führung überzeugen konnte. Der Mann von kleiner und zierlicher Statur weiß, dass Türken ohne persönliche Ansprache und Beziehungen selten für solche Veranstaltungen zu gewinnen sind. Diesmal aber freut sich der Schriftsteller über die vielen Teilnehmer so sehr, dass er mit einem aufblitzenden Leuchten in den Augen und einem Lächeln von einem Teilnehmer zum anderen zu hüpfen scheint.

Dass gerade die Vergangenheitsbewältigung ein Prozess ist, der langer Zeit bedarf, wissen die beiden Initiatoren Dogan Akhanli vom Kölner Appell und Heinz Humbach vom EL-DE-Haus auch aus eigenen Erfahrungen. Akhanli wurde jahrelang in der Türkei politisch verfolgt. Und weil er mit seinen Veranstaltungen unter den Migranten immer wieder für heftige Auseinandersetzungen sorgte, wurde ihm klar, dass diese Emotionen nichts mit kulturellen Unterschieden zu tun haben. Sie folgen demselben Muster, das auch bei der Wehrmachtausstellung zu beobachten war: Verdrängung und Verleugnung. Ein Prozess, der sich auch unter Türken und Kurden in Deutschland vollzieht, weil sie, so Akhanli, keinen kritischen Umgang mit der Geschichte erfahren haben. „Sie reagieren emotional, haben kein Interesse an einer kritischen Betrachtung der Vergangenheit, obwohl sie hier leben, und setzen lieber Scheuklappen auf.“ Deshalb fragte sich Akhanli, ob man nicht von der deutschen Geschichte und dem Umgang mit ihr etwas lernen und wie man diese Erfahrungen für Migranten nutzen könne.

Heinz Humbach vom NS-Dokumentationszentrum hingegen hat als Jugendlicher die Erfahrung der politischen Verfolgung gemacht. Als 16-Jähriger erlebte er in Gestapohaft den Naziterror. Deshalb will er, dass auch andere Minderheiten in Deutschland etwas aus dieser Zeit lernen. „Die Opfer von neonazistischen Gewalttaten sind ja nun mal Türken oder andere Ausländer, andere Minderheiten. Von daher müsste man eigentlich an ihrer Stelle ein Interesse daran haben, zu wissen, wenn es Neonazis gibt, was bedeutet das?“ Und weil Türken in Deutschland die größte Minderheit stellen, entschloss man sich, mit türkischsprachigen Führungen zu beginnen.

Durch Führungen zum Thema NS-Vergangenheit versuchen nun Akhanli und Humbach türkischstämmigen Migranten einen neuen Zugang im Umgang mit der Geschichte zu ermöglichen. Dabei soll keine Vergangenheitsaufarbeitung für das eigene Herkunftsland stattfinden. Vielmehr sollen die Migranten lernen, die Bundesrepublik richtig zu verstehen. Beeindruckt und zugleich fassungslos lauschen die Teilnehmer den Ausführungen des Zeitzeugen Humbachs, die von Akhanli ins Türkische übersetzt werden.

Die Gedenkstätte im Keller des EL-DE-Hauses in Köln ist das ehemalige Hausgefängnis der Gestapo. Politisch „Verdächtige“, Zwangsarbeiter und zahlreiche Jugendliche wurden hier vorwiegend zum Verhör eingekerkert und über Monate gefangen gehalten, in engen Zellen mit manchmal mehr als 30 Personen. Mit Folterungen erpresste die Gestapo von den Häftlingen Geständnisse. Die insgesamt zehn Zellen befinden sich noch weitgehend in ihrem damaligen Zustand – mit schweren Türen und Riegeln. Auf den Zellenwänden haben die Gefangenen Zeichnungen und Inschriften in den unterschiedlichsten Sprachen hinterlassen – oft letzte Lebenszeichen und beklemmende Zeugnisse dessen, was Menschen hier – teilweise im Angesicht des Todes – erlitten haben.

Als Humbach im Keller, der 1935 durch Häftlinge erbaut wurde, über die persönlichen Schicksale erzählt, kann sich die 19-jährige Gymnasiastin Meltem beim Betrachten der Zellen nur mühsam das Lachen verkneifen. Es ist nicht der für Deutschland einmalige Originalzustand der Zellen, der bei Meltem diese Reaktion auslöst. Vielmehr ist es die Bemerkung ihrer kurdischen Freundin, die ihr sagte, dass man in der Türkei einfach das Radio lauter stelle, damit die Leute auf der Straße nicht hören, was in den Kellern geschehe. „Ja, da musste ich lachen. War natürlich auch traurig. Aber andererseits auch witzig, dass man die Sachen, die 1945 in Deutschland passiert sind, immer noch mit der Türkei von heute vergleichen kann“, versucht die Schülerin ihre Emotionen zu beschreiben. „Sie haben alles mit persönlichen Ereignissen verbunden. Dadurch wurde alles lebhafter“, bringt es die Mutter auf den Punkt, holt tief Luft und ergänzt mit leiser Stimme, „und das macht die Sache noch schrecklicher.“

Ebenfalls noch ganz benommen von den frischen Eindrücken resümiert ein älterer Teilnehmer: „Zu erfahren, dass auch die renommierte türkische Zeitung Cumhuriyet Propaganda für die Nazis gemacht hat, ist unglaublich. Wenn ich dann daran denke wie selbstverständlich wir als Türken zu rassistischen Bemerkungen greifen, wenn uns jemand nicht gefällt, das ist schon erschreckend.“

Ergreifend und doch so schwer zu verstehen ist für die meisten vor allem die gelassene Haltung, mit der Humbach als Zeitzeuge über einige Täter spricht, die er auch persönlich kannte. „Da istgar kein Hass“, resümiert die Mutter irritiert. Und Hakan? Warum entschied er sich lieber für eine Führung auf Türkisch, wo er doch fließend Deutsch spricht? „Auf Türkisch traue ich mich andere Fragen zu stellen. Da hab ich einen anderen Zugang“, gesteht der Student.

Damit also auch die Migranten erkennen, dass es damals „ganz normale Deutsche“ waren, aus denen dann Täter wurden, soll ihnen anhand der Führungen im EL-DE-Haus verdeutlicht werden, dass es unter den Migranten genauso rassistische Köpfe gibt wie in Deutschland oder anderswo.

Gerade die Tatsache, dass sich Türken in Deutschland, wenn auch aus verständlichen Gründen, eher als Opfer von Fremdenfeindlichkeit und Rassismus fühlen und sich mit der Geschichte ihrer neuen Heimat nicht ausreichend beschäftigen, verstellt sowohl den Blick auf das Interesse an der deutschen Geschichte als auch auf die Verantwortung für die eigene Geschichte.

NS-Dokumentationszentrum EL-DE-Haus, Appellhofplatz 23–25, 50667 Köln, Tel. (02 21) 22 12-63 31, Öffnungszeiten: Di.–Fr. 10–16 Uhr, Sa./So. 11–16 Uhr; Erwachsene 3,60 €, erm. 1,50 €