DIE KELLY-UNTERSUCHUNG WIRD KEINEN SCHULDSPRUCH FÄLLEN
: Erst die Wähler können Blair bestrafen

Er sei eine ehrliche Haut, hat Tony Blair einmal von sich selbst gesagt. Im Fall Kelly hat er gelogen, und zwar mehrfach. Er behauptete, das Verteidigungsministerium habe den Namen des Wissenschaftlers an die Medien weitergegeben. In Wirklichkeit kam der Befehl vom Premierminister. Und Blair hat gelogen, als er behauptete, ein „etablierter und zuverlässiger Informant“ habe erklärt, der Irak könne seine Massenvernichtungswaffen binnen 45 Minuten aktivieren. In Wahrheit beruhte diese Behauptung im Regierungsdossier auf Hörensagen. Der „etablierte und zuverlässige Informant“ hatte lediglich einen „hochrangigen Beamten“ zitiert, wie aus einem Dokument des Verteidigungsministeriums hervorgeht.

Wird Blair deshalb zurücktreten müssen? Mit Sicherheit nicht. Öffentliche Untersuchungen haben in Großbritannien noch nie schwerwiegende Konsequenzen nach sich gezogen. Schließlich wählt der Premierminister den Leiter der Untersuchung aus und steckt den Rahmen ab, in dem dieser sich bewegen darf. Es wäre das Gleiche, wenn ein Raubmörder sich seinen Richter aussucht und ihm vorschreibt, dass er nur über die Geschwindigkeitsübertretungen bei der Flucht urteilen darf.

Das heißt aber nicht, dass Lordrichter Brian Huttons Untersuchung der Todesumstände des Wissenschaftlers David Kelly bedeutungslos ist. Britische Untersuchungen haben es an sich, dass sie die Tatbestände durchaus schonungslos aufdecken. Nie hat sich das jedoch im abschließenden Urteil niedergeschlagen, angefangen von der Profumo-Untersuchung um die Prostituierte Christine Keeler in den Sechzigerjahren bis hin zur Untersuchung über britische Pässe gegen Parteispenden in den Neunzigerjahren. Die belastenden Beweise lagen für alle deutlich sichtbar vor, doch im Ergebnis waren alle unschuldig. Bei Huttons Arbeitsergebnissen wird es wohl auch nicht anders sein.

Freuen kann sich Blair darüber aber nicht, denn die Wähler werden sich anhand der Indizien und Beweise, die Hutton vorlegt, ihr eigenes Urteil bilden. Und David Kelly? Auch er hat gelogen, als er vor dem parlamentarischen Ausschuss des Außenministeriums im Juli behauptete, er könne nicht die Quelle für den BBC-Bericht sein. Offenbar hat ihn das innerlich so sehr belastet, dass er sich das Leben genommen hat.

Wenn sich auch die anderen Beteiligten an der Kelly-Affäre einen solch hohen moralischen Maßstab abverlangen würden, könnte man im Regierungsgebäude eine ganze Reihe Leute mit aufgeschnittenen Pulsadern finden. Aber dort reicht der Anstand nicht mal für einen Rücktritt. Schon gar nicht bei der „ehrlichen Haut“ Tony Blair.

RALF SOTSCHECK