Er lächelt und lächelt

Nach Silber über 10.000 m muss sich Haile Gebrselassie mit der Frage nach seinem Nachfolger beschäftigen

PARIS taz ■ 24 und eine halbe Runde war alles in bester Ordnung. Wie ein Uhrwerk war er gelaufen, nahezu schwerelos hatte es ausgesehen, und immer weniger Konkurrenten hatten ihm folgen können. Acht Mann waren es noch bei der 5.000-m-Marke, sieben eine Runde später, nach 7.600 Metern aber waren sie endgültig unter sich. Die 10.000-m-Entscheidung bei der WM im Stade de France zu Paris war zu einer äthiopischen Meisterschaft geworden. Und Haile Gebrselassie, 30 Jahre alt und zu Hause ein Denkmal des Laufens, rannte vorneweg. Ihm folgte Kenenisa Bekele und dem wiederum Sileshi Sihine. Drei Runden liefen die drei Freunde im Gleichschritt, dann konnte auch Sihine nicht mehr folgen. Zu zweit ging es in die letzte Runde. Ging es in die letzte Kurve. Dort geschah es: Bekele, der neun Jahre jüngere Bekele, beschleunigte, fing einfach an zu sprinten, fast schien er dem Ziel entgegenzufliegen. Haile Gebrselassie hatte dieser Dynamik, dieser jungen, wilden Kraft nichts mehr entgegenzusetzen. Er war geschlagen. Das Einzige, was er noch tun konnte, war, den Sieger im Ziel zu umarmen und ihm seine Ehrerbietung entgegenzubringen. Und natürlich sein Haile-Lächeln aufzusetzen. Das macht er immer.

Auf der Pressekonferenz im hohlen Bauch des Stade de France ist es dann ziemlich lustig zugegangen. Haile hat nicht nur außen gelächelt, sondern auch innen, man konnte das spüren. Er war zufrieden mit sich – und nicht unzufrieden mit Platz zwei. Und er packte das in solche Sätze: „Unser Ziel war es, die Kenianer zu schlagen. Das haben wir getan, und deshalb bin ich sehr glücklich.“ Vor allem ihm selbst muss es eine ziemliche Genugtuung gewesen sein, schließlich war er bei der WM in Edmonton noch von Charles Kamathi geschlagen worden – einem Kenianer. Auch damals hat Haile gelächelt, aber es war anders.

Zumal: Ganz unvorbereitet dürfte den 30-Jährigen die Niederlage diesmal nicht getroffen haben. Bei drei Rennen war der einst Unschlagbare in dieser Saison schon besiegt worden, auch Bekele war unter den Bezwingern. Da darf man sich nicht wundern, dass Reporter auf die Idee kommen, Fragen zu stellen wie diese: „Kenenisa, bist du der neue Haile?“ Kenenisa dreht dann ein bisschen den Kopf, schaut hinüber zu Haile, der ihn anlächelt, und sagt: „Nein. Ich kann nicht sagen, dass ich der neue Haile bin. Er hat schon so viel gewonnen. Ich habe ihn heute geschlagen, und das heißt, dass ich heute sehr gut war.“ Haile sagt: „Er kann mein Nachfolger werden. Er kann Olympiasieger werden und meinen Weltrekord brechen.“ Weltmeister ist er nun schon.

Haile liegt also wohl näher an der Wahrheit, jedenfalls sieht es im Moment so aus. „Du kannst die Welt nicht ewig beherrschen“, formuliert er das. Und wenn die Lauf-Welt schon einen neuen Herrscher bekommen soll, dann doch zumindest diesen Bekele, seinen Freund und Trainingspartner, wie er aus Addis Abeba, wie er mit einem ungewöhnlichen Talent ausgestattet, durch ihn, das große Idol, überhaupt erst zum Laufen gekommen. Bis zu dieser Saison hatte der neue Haile vor allem bei Cross-Rennen für Furore gesorgt, zweimal Doppelweltmeister war er da; dann lief er gleich bei seinem ersten Wettbewerb auf der klassischen Bahndistanz 26:53:70 Minuten – und schlug sein Vorbild.

Haile Gebrselassie nehme ohne Tränen Abschied von der Unschlagbarkeit, hat einer vor der WM geschrieben. Das stimmt, Haile lächelt ja immer. Insgeheim aber wird er sich seine Gedanken machen, wie er die Zeit aufhalten kann, wenigstens noch ein bisschen, bis nächsten Sommer in Athen. Dort will der Alte zum dritten Mal Olympiasieger über 10.000 Meter werden, das hat noch keiner geschafft, und es würde prima neben den 15 Weltrekorden stehen, die er aufgestellt hat. Dann könnte er Bekele das Feld überlassen und sich wieder dem Marathon widmen, wofür einer auch mit 30 noch nicht zu alt ist. Bei seiner Premiere vor einem Jahr in London lief Gebrselassie 2:06,35 Stunden. Es war die schnellste Zeit, die je ein Debütant für die 42,195 km benötigte. Haile lächelt, wenn er davon erzählt. Weil er weiß: Seine Zeit ist noch nicht vorbei. FRANK KETTERER