Carmens Standpauke

Scheintote und Hampelmänner: In dem Theaterstück „Fünf Stunden mit Mario“ nach einem Roman von Miguel Delibes wird ein halbes Jahrhundert zu Grabe getragen

Es riecht streng katholisch im Orphtheater. Für ein paar Tage haben Schauspielstudenten und Puppenspieler der Hochschule Ernst Busch hier ins frankistische Spanien um 1966 gefunden. Eine bizarre Trauergesellschaft aus lebenden und ausgestopften Familienangehörigen hat sich um einen Toten versammelt. Doña Carmen, die nunmehr verwitwete Hauptfigur, stützt sich auf Busenfreundin Valen und sucht nach Haltung, um ihre letzten „Fünf Stunden mit Mario“ zu verbringen. Diese Beerdigung ist zugleich krampfhafte Sinnsuche und verzweifelter Abgesang auf ein halbes Jahrhundert, in dem Monarchisten auf Republikaner, Frankisten auf Rote und keusche Kirchgänger auf Anarchisten trafen.

Carmen, die wertkonservative Ehefrau, hält am Totenbett des ehemaligen Bürgerrechtlers und Schreiberlings einen unaufhaltsamen Monolog, der Standpauke und Geständnis in einem ist. Dabei behält sie Mario stets im Auge, als könne ihr der Gatte die kostbare Redezeit noch im Tod streitig machen. Carmen, die sich abermals von ihrem Mann verlassen fühlt, spricht von mangelnder Treue, von den intellektuellen Dummheiten ihres Mannes und der hübsch an den Staat geknüpften kirchlichen Doktrin. In der Bühnenfassung wie im gleichnamigen Roman von Miguel Delibes klappert sie der Reihe nach alle Debatten ihrer Zeit ab und wird zum leibhaftigen Widerspruch einer heterogenen Gesellschaft zwischen Aufbruch und Repression.

Der Vorteil der Inszenierung von Anna Montanyà liegt darin, dass die gekränkte wie stolze Carmen (Julia Penner) nicht hoffnungslose Karikatur bleibt. Sie haucht der literarischen Figur Leben ein wie die Spieler ihren Puppen. In Momenten der Reflexion oder kurz bevor sie den Toten anbrüllt, zeigt sich am Horizont der ideologisch Geblendeten ein kleiner Hauch von Erkenntnis, bevor sie sich wieder an ihre Prinzipien klammert. Denn unheimlicher als Marios demokratische Unordnung ist ihr gar keine Ordnung.

Die „Depressionen“ ihres Gatten verdreht sie zu „Komplexen“. Man verzeiht ihr das, weil sie die spanische „República“ von 1930 vorzüglich als ein Produkt männlichen Größenwahns und „eine Sauerei von Burschen“ sieht. Wenn am Ende der älteste Sohn zur Mama hereinspaziert, um sie in den Fußstapfen des Papas eines philosophischen Besseren zu belehren, kann man auch ihn nicht ganz ernst nehmen: Zwar bringt er im buchstäblichsten Sinn frischen Wind in die stickige Bude, doch ein dreistimmig gesteuerter Gliedermann ist nicht der überzeugendste Rhetoriker.

Dass die ganze familiäre Trauergesellschaft durch Puppen vertreten wird, hat nicht nur thematisch seinen Sinn: diese scheintoten, beseelten Wesen stehen zwischen Tod und Leben wie Carmen auf ihrer brisanten Rutschfahrt zwischen Altem und Neuem. Auf freche, bitterböse Weise führen die Spieler an ihren Hampelmännern zudem gehirnmanipulierte Stereotypen vor. Ihre Stimme steht stets neben den grotesken Körpern und zeigt, welchen Stuss diese eigentlich reden. Ihr hysterisches Getue und die pathetischen „Vater Unser“ sind Teil einer einzigen theatralischen Aufführung und einer von der Liberalisierung Spaniens überholten Mentalität.

So lächeln sie noch im Trauermarsch würdevoll in die Kamera. Trauer, das sei eine stupide Beschäftigung, die man ausrotten solle, habe der freiheitsliebende Mario einmal gesagt. Das Orphtheater aber, das diese tragikomische Produktion beherbergt, hat das Beste daraus gemacht.

MARION DICK

28.–31. Juli, 20 Uhr, Orphtheater/Schokoladen, Ackerstr. 169/170, Mitte