DIETER BAUMANN über LAUFEN
: Ein Armstrong bricht kein Sportgesetz

Echte Sportathleten verzichten nicht auf einen Sieg. Alles andere wäre unfair – auch für die Zuschauer

Sieg oder Niederlage, nach dieser einfachen Regel funktioniert ein Wettkampf. So weckt er Interesse und lässt Spannung beim Zuschauen aufkommen. Fairness im Sport zeichnet sich auch dadurch aus, dass bei einem Schlussspurt kein Athlet absichtlich auf einen Sieg verzichtet. Sowohl für die Athleten als auch für die Zuschauer wäre ein solches Verhalten höchst unsportlich.

Bei einem Laufwettbewerb werden die Zuschauer von unterschiedlichen Taktiken mitgerissen. Manche Läufer suchen aufgrund ihrer Spurtschwäche die Flucht nach vorne und setzen sich sehr früh vom Feld ab. Sogleich fliegen ihnen die Sympathien des Publikums zu. Ihr Mut, ihr Engagement wird belohnt, denn jeder sieht, der Mann/die Frau gibt alles, will gewinnen. Andere brauchen so genannte Tempomacher. Der Hauptakteur versucht sich mit der Taktik des hohen Anfangstempos möglichst viele Konkurrenten vom Leib zu halten. Auch dieses Verhalten bringt Stimmung ins Publikum. Man sieht vom ersten Laufschritt an: Der Athlet will gewinnen.

Noch interessanter sind taktische Rennen. Das Läuferfeld bleibt lange kompakt, Lücken werden immer wieder geschlossen und vermeintlich schwächere Athleten kommen beim Schlussspurt ebenso für den Sieg in Frage wie die Favoriten. Drei, vier oder fünf Athleten biegen auf die Zielgerade ein, spurten und kämpfen um den Sieg und genau deshalb steigt die Spannung. Der Zuschauer möchte wissen: Wer ist der Beste? Stände der Sieg nicht aufgrund des Könnens, sondern aufgrund interner Absprachen fest, wäre der Wettkampf völlig uninteressant. Keiner würde sich für den Ausgang interessieren.

Nach ebendieser Regel funktioniert im Radsport auch die Tour de France, die ich in den letzten Wochen verfolgte. Kurz vor einem Etappenziel in den Bergen stand Lance Armstrong als neuer Träger des Gelben Trikots fest. Vier Radler hatten sich abgesetzt, Ullrich, Klöden, Basso und eben Armstrong. Sie alle, so mein Eindruck als Zuschauer, kämpften um den Sieg.

Die Berichterstatter allerdings wussten mehr. Redeten von ungeschriebenen Gesetzen. Basso hatte am Vortag eine Etappe für sich entschieden und „kommt deshalb für einen erneuten Etappensieg nicht in Frage“. Armstrong fährt ab morgen in Gelb – „darf“ also „nicht gewinnen“. Sondern Ullrich oder Klöden, so die Schlussfolgerung der deutschen Reporter. Zum Entsetzen aller griff Basso an, Armstrong hielt dagegen, war besser und gewann. Ein spannendes, ein tolles Rennen für mich als Zuschauer, der Ausgang war eben doch bis kurz vor der Ziellinie völlig offen.

Die Reporter sahen das ganz anders und begannen zu schimpfen. Leider versäumten sie dabei, den Zuschauer darüber aufzuklären, dass der Erste einer Etappe 20 Sekunden Zeitgutschrift bekommt, Basso also, im Falle eines Sieges wie am Vortag 20 Sekunden näher an Armstrong im Gesamtklassement gerückt wäre. Stattdessen schwadronierten die Reporter von ungeschriebenen Gesetzen. Kaum war dieser „Gesetzesbruch“ von Armstrong verarbeitet, folgte in den Augen der Berichterstatter das zweite „Vergehen“. Auf der Königsetappe konterte der Texaner den Spurt von Klöden aus und schnappte ihm vor der Ziellinie den Tagessieg weg. Wieder ein Aufschrei: „Wie kann er nur, wie unersättlich!“

Im Geschrei der Reporter ging ein überaus sachlicher Kommentar des Telekom-Fahrers Rolf Aldag völlig unter: „Ich wäre auf meinen Chef auch sauer, wenn er den Sieg verschenken würde.“ Denn dafür gibt es 10.000 Euro in die Mannschaftskasse. Armstrongs Team hatte ihn nicht nur auf dieser Etappe vorbildlich in Szene gesetzt und vielleicht konnte es sich auch deshalb am Schluss gar nicht zurückhalten.

Was jedoch Aldag beschreibt, der Gedanke, „einen Sieg zu verschenken“, hat mit einem ungeschriebenen Gesetz nur wenig zu tun. Es ist eine elementare Frage der Fairness. Als Zuschauer will ich keine Absprachen oder ungeschriebene Gesetze. Ich möchte einen Wettkampf mitverfolgen, bei dem sich der Beste nicht zurückhält, sondern sein Können zeigt, bis zur Ziellinie.

Fragen zum Spurt? kolumne@taz.de Morgen: Robin Alexander über SCHICKSAL