Luhmanns Erbe öffnet sich

Gestern ging der Streit um den sagenumwobenen Zettelkasten von Luhmann zu Ende. Die Tochter erbt alles

HAGEN taz ■ Der wissenschaftliche Nachlass und das Eigentumsrecht am legendären Zettelkasten des Bielefelder Soziologie-Professors Niklas Luhmann wird nicht zwischen den Erben aufgeteilt. Dies hat gestern der 10. Zivilsenat des Oberlandesgerichts (OLG) in Hamm im Familienstreit um das geistige Erbe des weltweit berühmten Wissenschaftler entschieden. Einzig und allein der Tochter des Soziologen, Veronika Luhmann-Schröder aus Lemgo, stehen alle Eigentums- und Urheberrechte am wissenschaftlichen Werk einschließlich des geheimnisumwitterten Zettelkastens zu, urteilte das OLG. Die beiden Söhne des 1998 im Alter von 71 Jahren verstorbenen Gelehrten haben keinen Anteil am geistigen Nachlass ihres Vaters. Da der Wissenschaftler noch zu Lebzeiten im Jahr 1995 seiner Tochter in einem Vorausvermächtnis alle Rechte an Publikationen und Lizenzen vermacht hatte, ist für den 10. Zivilsenat die Eigentumsfrage geklärt. Mit diesem Vermächtnis komme der Wille Luhmanns zum Ausdruck, dass sein geistiges Erbe in einer Hand bleiben solle. Die Revision wurde nicht zugelassen.

Insbesondere über die Rechte am legendären Zettelkasten des großen Gelehrten hatten sich die Geschwister zerstritten. Ihm wird in Fachkreisen eine unschätzbare wissenschaftliche Bedeutung und ein hoher materieller Wert zugesprochen. So liegt das Angebot einer Stiftung vor, die den Nachlass Luhmanns für einen siebenstelligen Betrag erwerben will. So erklärt es sich auch, dass ein im Mai unterbreiteter Vergleichsvorschlag des Gerichts über eine 100.000 Euro hohe Abfindung gescheitert ist.

Obwohl Luhmann eine Vielzahl von Büchern und Aufsätzen veröffentlicht hat, gilt der Zettelkasten als sein Hauptwerk. Über dreißig Jahre lang hat er ihn mit Notizen und zu Papier gebrachten Ideen für seine Theorien gefüttert. Bislang war eine Auswertung des Zettelkastens wegen der erbrechtlichen Streitigkeiten der Geschwister verwehrt. Er steht seit Jahren im „Zentrum für interdisziplinäre Forschung“ der Universität Bielefeld, an der Luhmann von 1967 bis 1993 gelehrt hat, unter Verschluss. Sechs Jahre nach dem Tod des Soziologie-Professors kann nun der Zettelkasten geöffnet und sein mit Spannung erwarteter „geistiger Inhalt“ erforscht werden.

KLAUS BRANDT