„Wir sind nackt und nennen uns Du“

Freikörperkultur im Verein hat zwei Probleme: Überalterung und Mitgliederschwund. Das zeigt sich auch beim Bremer „Bund für Familiensport und naturnahe Lebensgestaltung“, der 1947 gegründet wurde, um der „Volksgesundung“ zu dienen

Wer um 1900 die Hüllen fallen ließ, tat dies aus tiefer ideologischer Überzeugung. „Kohlrabiapostel“ nannte man die Reformer gemeinhin

Es ist das zweitgrößte FKK-Gelände in Norddeutschland, und es ist alles da, was moderne Evas und Adams benötigen: Sauna, Restaurant, überdachter Grillplatz, Sanitäranlagen, eine großzügige Sportanlage und natürlich ein Badesee. Wer es sich leisten kann, besitzt eine der 57 Hütten in dem Wäldchen zwischen Brundorf und Stendorf – ein lauschiges Wäldchen, so lauschig, dass zum Beispiel Gerd Detlef dort eine Hütte haben wollte, obwohl ihm die vielen Nackten zunächst nicht ganz geheuer gewesen seien. „Villa Sorgenfrei“ hat er die Hütte getauft und sich schnell mit der Freikörperkultur arrangiert – schließlich sei ja nichts dabei.

Das findet wohl auch ein Großteil der Bevölkerung. Heute muss niemand, der auf Badehose und BH verzichten will, extra in einen FKK-Verein eintreten. An fast allen Badeseen gehören Nudisten zum üblichen Erscheinungsbild. Das ist wohl der Grund, weshalb die organisierten Nackt-Oasen überall in Deutschland unter Überalterung und Mitgliederschwund leiden.

Auch die Bremer FKK’ler verzeichnen 70% über 60-Jährige. Einige von den Rentnern haben ihre Enkelkinder mitgenommen. Die fühlen sich offensichtlich auf diesem eingezäunten „Naturspielplatz“ sehr wohl. Obwohl sich der Bremer Verein Bund für Familiensport und naturnahe Lebensgestaltung (BfFnL) nennt, ist das Modell Mama-Papa-Kind eher Ausnahme. Damit bestätigt der BfFnL den bundesweiten Trend.

Familien, die FKK-Mitglieder werden wollen, werden mit Kusshand genommen – Singles haben’s da etwas schwerer. Wer glaubt, in aller Ruhe den potentiellen Partner hüllenlos abtaxieren zu können oder gar von sexuellen Exzessen im Waldesgebüsch träumt, ist bei FKK-Vereinen falsch. Hier gehe es nicht um die „erotische Nacktheit“, sondern um die „soziale Nacktheit“, so Wolfgang Weinreich, Vizepräsident des Deutschen Verbandes für Freikörperkultur. Auf dem FKK-Weltkongress 1974 erklärte man, dass die Freikörperkultur „in der gemeinschaftlichen Nacktheit, verbunden mit Selbstachtung, sowie Respektierung der anders Denkenden und der Umwelt“ zum Ausdruck kommt.

Eine zentrale Rolle in der Freikörperkultur spielt der Sport, der möglichst pur betrieben wird. Vor allem Mannschaftssportarten, bei der das nackte Team zusammenhalten muss, sind gefragt. Doch keiner, der Mitglied werden will, muss ein Sport-Ass sein. Auch dem gemütlichen Bierchen steht man heute wohlwollend gegenüber. Solange niemand volltrunken übers Gelände torkelt, ist Alkohol erlaubt.

Als die FKK-Bewegung um 1900 im Kontext der Lebensreformbewegung entstand, galten noch harte Regeln unter den Freaks. „Zurück zur Natur“ hieß die Devise: je vegetarischer und Bio desto besser. Wer die Hüllen fallen ließ, tat dies aus tiefer ideologischer Überzeugung. „Kohlrabiapostel“ nannte man sie gemeinhin – die Reformer kämpften für Müsli und Nacktheit und sahen darin das kosmische Heil der Menschheit.

In der Weimarer Repuplik mauserte sich die Freikörperkultur zur Massenbewegung. Der Kaiser hatte sein Ornat abgelegt und die Kraft des Volkes wurde heraufbeschworen. „Wir sind nackt und nennen uns Du“, so lautete der Titel eines FKK-Magazins aus den 20er-Jahren.

Die Nazis machten dem bunten Treiben ein Ende und verboten die suspekten Vereine. Dabei waren sie keineswegs gegen Nacktheit – nur arisch sollte sie sein. Nicht zuletzt zeigt sich das Ideal des „germanischen Menschen“ in den umstrittenen Fotos von Leni Riefenstahl. Die neuen Machthaber gründeten ihren eigenen Nackt-Verein, den Bund für Leibeszucht. In Bremen leitete Anni Holtz von 1940 bis 1945 den züchtigen Zusammenschluss der Nazi-Nackten.

Schon kurz nachdem die ersten Trümmer zur Seite geräumt waren, gingen die FKK’ler, diesmal im Zeichen der Entnazifizierung, neu an den Start. Auch bei Anni Holtz vollzog sich der ideologische Reinigungsprozess erstaunlich schnell. Sie war es, die das Gelände des heutigen BfFnL entdeckte und den Verein mitaufbaute. Im Gründungsprotokoll von 1947 schreibt sie: „Wir sind eine Vereinigung gleichgesinnter Menschen, bestrebt, uns von alten und überholten Anschauungen frei zu machen und neue Wege einer freien Lebensgestaltung zu suchen.“ Weiterhin führt sie aus, dass „die Freikörperkultur wie kaum eine andere Bestrebung geeignet ist, der nach all den Jahren des Niedergangs so dringend nötigen Volksgesundung zu dienen“.

Anni Holtz starb in den 70er-Jahren, ihre beiden Söhne leben in Australien. Erfahren lässt sich heute über Holtz nur noch etwas über Zeitzeugen: „Anni war eine mutige und emanzipierte Frau, die nie geschminkt war und immer ein Zelt dabei hatte“, erinnert sich Helga Willfang, seit 55 Jahren BfFnL-Mitglied. Sie hat die Vereinsmutter noch als Kind kennen gelernt, in vergangenen Zeiten, als es noch üblich war, sich nackt morgens auf einer Lichtung die Hände zu reichen.

Was die Zukunft des BfFnL betrifft, so gibt sich Lotti Kaempf, ebenfalls ein in die Jahre gekommenes Vereinsmitglied, optimistisch: In Zeiten zunehmender Arbeitslosigkeit und Geldknappheit rücke man dichter zusammen und besinne sich auf alte Werte – so auch auf die FKK-Tradition: Familie, Sport und Spaß im Licht- und Luftkleid habe einen großen Erholungswert, so Kaempf. Und sei nicht teuer.

Esther Brandau