DIE RECHTSCHREIBUNG DARF DER REFORMDEBATTE NICHT ZUM OPFER FALLEN
: Der Schlussstrich ist ein Muss

Wenigstens die Kultusminister wissen noch, was wirklich wichtig ist. Bildungsmisere? Gibt es nicht. Pisa-Studie? Nichts als bösartige Unterstellungen. Vorschule für Kleinkinder? Überflüssig. Aber die Frage, ob es „muß“ oder „muss“ heißen muss, die muss jetzt dringend geklärt werden. Die Bildungspolitiker in den Ländern haben deshalb getan, was sie sonst nie tun: Sie haben die Initiative ergriffen. Die Konferenz der Kultusminister, deren Beschlüsse gewöhnlich erst nach Jahren fallen, wird jetzt ganz schnell prüfen, ob sie die Rechtschreibreform wieder zurücknehmen soll.

Damit ist die Bildungsdebatte dort angekommen, wo sich die Diskussion über Sozialreformen bewegt: im hektischen Leerlauf von vollmundigen Vorschlägen und kleinmütigem Klagen, von depressiver Entscheidungsschwäche und einer pathologischen Neigung zum ewigen Aufschieben. Alles, was den Namen „Reform“ trägt, steht derzeit unter Generalverdacht. Wie bei der Abschaffung der Arbeitslosenhilfe wittern auch bei der neuen Rechtschreibung die Gegner plötzlich Morgenluft. In der Sache selbst haben sie resigniert, über Sinn und Unsinn wird längst nicht mehr gesprochen. Stattdessen werden immer extremere Beispiele herbeigezerrt, ob es nun um das Wörtchen „gräulich“ geht oder den angeblich drohenden Umzug von Arbeitslosen in abrissreife Plattenbauten.

Die Rolle, die bei den Sozialthemen der Bild-Zeitung zukommt, hat bei der Rechtschreibung ein Frankfurter Frakturblatt eingenommen. Politiker, die auf das Thema anspringen, finden die Redakteure der FAZ allemal. Lauthals forderte Niedersachsens Ministerpräsident Christian Wulff einen „Schlussstrich“ unter die Reform, selbst ernannte Experten schlossen sich dem Aufschrei an. Dabei gibt es, wie der hessische Kollege Roland Koch überraschend hellsichtig feststellte, ein Zurück zur alten Rechtschreibung ohnehin nicht mehr. Immerhin ist die neue seit Jahren in der Welt. Die Frage ist nur, ob man das kreative Chaos endlich akzeptiert – oder ob sich dieses Land weiter der Illusion hingibt, es gebe einen bequemen Rückweg zur alten Übersichtlichkeit. RALPH BOLLMANN