Wer sind schon die Amis?

Kim Collins, der schnelle Mann von der karibischen Inselgruppe St. Kitts & Nevis, düpiert die sieggewohnten Sprinter aus den großen Vereinigten Staaten und holt Gold im 100-Meter-Lauf

aus Paris FRANK KETTERER

Ein bisschen dauerte es. Der Mann im schwarzen Anzug schaute sich um, immer wieder, und er war sehr angespannt dabei, das konnte man sehen. Dann war die fröhliche Ahnung, die Kim Collins schon beim Überqueren des Zielstrichs beschlichen hatte, endgültig zur Gewissheit geworden – und die Anspannung im jugendlichen Gesicht zu ausgelassenster Freude. Es war der Moment, in dem Kim Collins klar wurde, dass er ab sofort Weltmeister über 100 m ist. Es war der Moment, in dem irgendwo in der Karibik zwei kleine Inseln vor Begeisterung zu wackeln begonnen haben, ganz bestimmt. „Heute Abend werden zu Hause alle Läden, die Bier verkaufen, ausverkauft sein“, sagte Kim Collins, der Weltmeister, später, da war er sicher. Zu Hause, das ist für den 27-Jährigen die kleine karibische Inselgruppe St. Kitts & Nevis.

10,07 Sekunden hatte Collins benötigt, um nach 100 Metern ins Ziel zu stürmen, gleich vier Athleten waren ihm mit 10,08 Sekunden auf den Fersen, sodass die Auswertung des Zielfotos entscheiden musste und folgendes Ergebnis ans Flutlicht des Stade de France beförderte: Zweiter Darrel Brown aus Trinidad & Tobago, Dritter Darren Campbell, Vierter Dwain Chambers, beide aus Großbritannien, Fünfter erst Tim Montgomery, der Weltrekordler. Maurice Greene, der andere vermeintliche Mitfavorit aus Amerika, hatte es erst gar nicht ins Finale der besten acht geschafft, sondern war im Halbfinale nach 10,37 Sekunden und, eine Verletzung vortäuschend, humpelnd ausgeschieden.

Dass die 10,07 Sekunden die langsamste Siegerzeit bei einer WM seit 1983 (Carl Lewis) darstellten, spielte nach dem Rennen kaum mehr eine Rolle. Was kann Collins schon dafür, dass Montgomery, Lebensgefährte der pausierenden Sprinterin Marion Jones, sich nächtens ums gemeinsame Baby kümmern muss und deshalb am Tag nicht schnell laufen kann. Dass Greenes Maul im Vorfeld mal wieder größer war als offensichtlich seine Form, und Jon Drummond so blöd war, im Viertelfinale per Fehlstart auszuscheiden! Und überhaupt: Wer waren an diesem verrückten Tag schon diese Amis? „Es zählt doch nicht, woher man kommt. Man ist doch kein großer Champion, nur weil man aus einem großen Land stammt“, sagte Collins dazu nur. Es war sehr weise gesprochen.

Collins stammt, wie erwähnt, aus einem kleinen Land, „einem Fleckchen auf dieser Erde, von dem man normalerweise nicht spricht“, wie er grinsend erklärte. Am späten Montagabend in Paris aber war nur noch von St. Kitts & Nevis, den beiden Inseln in direkter Nachbarschaft zu Guadeloupe und Martinique, die Rede. „Wir haben rund 45.000 Einwohner, weniger als ins Stade de France passen“, erzählte Collins – und übertrieb damit sogar. Im Juli lag die offizielle Einwohnerzahl bei exakt 38.763 Insulanern; das Stadion in Paris wäre mit ihnen gerade mal halb gefüllt. Die Hauptstadt heißt Basseterre, ihr berühmtester Sohn Kim Collins, und der hat zehn Geschwister. „Ich bin der sechste, aber wir sind nicht alle zur gleichen Zeit zur Welt gekommen“, stellte er seine Familie vor.

Seit der schnelle Mann vor zwei Jahren in Edmonton Bronze über 200 m gewann, die erste Medaille seines Landes überhaupt, ist er zu Hause, wo die Häuser nicht höher als die Palmen sein dürfen, ein Held. „Damals habe ich ein Haus von der Regierung geschenkt bekommen“, sagt Collins, „und jedesmal, wenn ich nach Hause komme, holt mich ein Chauffeur am Flughafen ab.“ Auf Reisen geht der 27-Jährige selbstverständlich mit einem Diplomatenpass, außerdem hat man ihm ein Denkmal errichtet und eine Straße nach ihm benannt: den Kim-Collins-Drive. Es muss wunderbar sein für Kim Collins, den Weltmeister, auf St. Kitts & Nevis.

Wobei natürlich auch das Paradies so seine Haken hat. Eine richtige Tartanbahn gibt es auf den netten Inseln nämlich nicht, nur eine aus Gras. Deshalb studiert der 27-Jährige seit ein paar Jahren schon in den Staaten, an der Universität in Texas. In Soziologie ist er eingeschrieben, aber mehr als über den Büchern schwitzt er dort bei Trainer Monty Stratton auf der Trainingsbahn. Vielleicht bauen sie ihm eine solche jetzt auch zu Hause auf den Inseln. Es wäre ein prima Geschenk für Kim Collins, den Weltmeister.