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: Kästner für alle

Neulich Nacht habe ich den „Fabian“ von Erich Kästner wieder gelesen. Es kann ja ziemlich ernüchternd sein, wenn man nach zwanzig oder noch mehr Jahren noch einmal liest, was man gut fand, als man gerade in der Oberstufe war. Mit Hermann Hesse ist mir das zum Beispiel so gegangen. Mit dem Vorkriegsroman „Fabian“ aber hatte ich dieses Problem nicht. Ich war sofort wieder drin und hätte wieder genauso heulen können am Ende, als Fabian von der Brücke springt, um ein Kind zu retten, und dabei selber ertrinkt. „Fabian“ scheint resistent gegen Abnutzungserscheinungen und Moden, so wie Kästners berühmte Kinderbücher auch. Überhaupt fällt mir kein Autor ein, mit dem der Übergang vom jugendlichen zum erwachsenen Leser so gut gelingt wie mit Erich Kästner.

Diesen Autor legt man nicht beiseite, bloß weil man älter wird. Insofern ist die Investition in eine Werkausgabe bei wenigen Schriftstellern so lohnend wie bei ihm. Außerdem ist Kästner eine echte Alternative zur grassierenden Kanonitis mit ihren auswechselbaren Ausgaben der hundert besten Romane oder Theaterstücke. Die kiloschweren Bildungshämmer sind in Akademikerkreisen zurzeit ja ein beliebtes Konfirmationsgeschenk. Allerdings kenne ich keinen Konfirmanden, der seine Enttäuschung – hätten sie die hundert Euro doch in bar gegeben! – auch nur ansatzweise verbergen konnte. Mit einer Kästner-Kassette, wenn es denn unbedingt kein Geld sein soll, wäre das den Tanten und Onkeln vielleicht erspart geblieben.

Zum 30. Todestag Kästners am 29. Juli ist die kommentierte Gesamtausgabe von 1999 bei dtv wieder aufgelegt worden: eine nüchterne, trotz der Fülle noch handliche Angelegenheit. So eine Kästner-Kassette ist schon deshalb schön, weil Kästner ein Autor zum Blättern ist. Man liest ihn mit Marker oder kleinen Lesezeichen, um die pointiertesten oder witzigsten oder herzerweichendsten Stellen zu markieren. „Es gibt nichts Gutes / außer: Man tut es“, oder „Wer noch nicht starb, dem steht es noch bevor“, oder der wichtigste Gesetzesbeschluss aus der „Konferenz der Tiere“: „Es gibt keine Trägheit des Herzens mehr.“ Man kann Kästners unsentimentale Naturlyrik entdecken oder sich für ihn als Zeitzeugen interessieren. Man kann mit Kästner fremdeln, weil sein Verhältnis zu Frauen aus heutiger Sicht eine merkwürdige Mischung aus draufgängerisch und verklemmt war. Und man verzeiht ihm auch das, weil er wie kein anderer deutscher Schriftsteller gleichermaßen viel Biss und viel Herzenswärme hatte.

Als Gebrauchspoet hat Kästner sich selbst gesehen, und zum Gebrauch für jedermann ist diese Gesamtausgabe gedacht. Was Kästner von Elfenbeintürmen und akademischer Hochnäsigkeit hielt, hat er in seiner „Marktanalyse“ schließlich mehr als deutlich gemacht: „Der Kunde zur Gemüsefrau: ‚Was lesen Sie denn da, meine Liebe? Ein Buch von Ernst Jünger?‘ Die Gemüsefrau zum Kunden: ‚Nein, ein Buch von Gottfried Benn. Jüngers kristallinische Luzidität ist mir zu prätentiös. Benns zerebrale Magie gibt mir mehr.‘ “

Ja, so ist er, der Erich Kästner, und vielleicht ist dies das größte Kompliment, das man ihm machen kann und muss: dass er wirklich ein Schriftsteller für alle ist, für Kinder wie für Erwachsene, für Gebildete wie für Unbelesene. Von den Linken als Melancholiker verhöhnt, von den Nationalsozialisten als Kulturbolschewist verboten, von der Filmregisseurin Caroline Link vor wenigen Jahren noch einmal neu entdeckt – und dazwischen immer wieder gelesen. So überrascht es nicht einmal, dass auch die Nazis um diese Qualitäten wussten. Ausgerechnet in einem Gutachten der Reichsschrifttumkammer von 1937 diagnostizierten sie treffend, dass Erich Kästner das Zeug zu einem „Mark Twain der deutschen Sprache“ habe.

ANGELIKA OHLAND

Erich Kästner: Werke in neun Bänden. Herausgegeben von Franz Josef Görtz. dtv, München 2004, 5.216 Seiten, 98 Euro