Wenn Sisyphos einen Kran hätte

Zwischen ungenügender Selbstvermarktung und mangelnder Gefälligkeit: Line Wasner und Timo Knöpper sind Buchtuner und verwandeln auf Bestellung Lieblingsbücher in exklusive Einzelstücke – nicht ohne sie vorher genauestens studiert zu haben

VON MARION DICK

Der Buchumschlag zu Raymond Radiguets „Den Teufel im Leib“ zeigt die zerstreuten Möbel eines Schlafzimmers. Line Wasner, die den Umschlag gestaltet hat, wollte eine Schlüsselszene aus dem Roman festhalten, in der ein frühreifer Fünfzehnjähriger mit seiner Verehrten das Mobiliar für deren bevorstehende Ehe aussucht. Der Held sei ziemlich clever, meint Line Wasner. „Er schleicht sich auf ganz freche Art und Weise ins fremde Schlafzimmer ein.“

Man merkt, dass sie die Bücher sehr genau kennt, deren Umschläge sie entwirft und von Hand anfertigt. Genau das unterscheidet so genanntes „Buch Tuning“ von gewöhnlicher Buchgestaltung: Wo sich das persönliche Lesevergnügen mit dem Grübeln und der Lust am Zeichnen verbindet, verwandeln sich Bücher mit hoher Auflagenzahl in Einzelstücke. Und wenn man sich ansieht, wie einfarbig und langweilig zum Beispiel Suhrkamp Thomas Bernhards Werk herausgibt, ist das ein wirklich netter Kontrast.

Vor einem Jahr haben Line Wasner und ihr Partner Timo Knöpper das Projekt gestartet. Sie entwerfen individuelle Skizzen passend zu ihrer Lieblingsliteratur und drucken in Holz- oder Siebtechnik maximal dreißig Exemplare. Auf Wunsch gibt es auch echte Unikate. Einmal hat Line Wasner eine Originalzeichnung für den Reiseführer eines Kunden entworfen; das Büchlein wies durch seine spanische Lieblingsstadt.

Mittlerweile haben die beiden 25 Titel im Repertoire, darunter vor allem Klassiker wie J. D. Salingers „Ein Fänger im Roggen“ oder Max Frischs „Mein Name sei Gantenbein“. Aber nicht nur Klassiker, sondern auch Lieblingsbücher: Wenn Line Wasner von Radiguet erzählt, der mit 19 „Den Teufel im Leib“ schrieb und bereits kurz darauf starb, schaut sie ins Leere, und die Augen leuchten. „Der hat so eine komisch gruselige Stimme. Ich habe immer das Gefühl, er wusste schon, dass er sterben würde. Er war irgendwie ganz jung und ganz alt zugleich.“

In Weimar haben Line Wasner und Timo Knöpper gemeinsam Freie Kunst studiert. Als sie nach Berlin kamen, suchten sie nach einer Nebentätigkeit, deren Erlös sie als Freischaffende unterstützen würde. Jeder kommerzielle Hintergedanke aber ist ihrem Wesen fremd.

„Angewandte Kunst“ bedeutet für Line Wasner, dass das Thema von vornherein klar ist. Jedes individuelle Stück Literatur gibt einen Impuls für dessen Gestaltung. Von dort aus setzt die Kreativität des Künstlers ein, in die Line Wasner auch kein Auftraggeber mehr reinreden kann. Ihr Künstler-Ich strebt Richtung Freiheit und gibt sich ansonsten bescheiden: Die Preise sind klein, signiert haben Line Wasner und Timo Knöpper ihre Drucke erst, nachdem die offenbar mehr auf Etikette bedachten Kunden danach verlangten. Ein bisschen scheint der Erfolg des Unternehmens aber genau darin gefangen: zwischen ungenügender Selbstvermarktung und mangelnder Gefälligkeit.

Was die beiden viel zu wenig lesen würden, seien Bestseller. Aber dann ist die Leserschaft eines Dieter Bohlen wiederum keine, die dem besten Kumpel mit Begeisterung einen handgefertigten Buchumschlag als Geschenkidee überreicht.

Am liebsten würden sie die Bücher ganz in Angriff nehmen, sich die Rechte an den Werken besorgen und einen eigenen Verlag gründen. Der Dumont-Verlag hatte sich an einer Zusammenarbeit interessiert gezeigt, aber auch diese Option verlief sich im Sand. Momentan bieten ein paar Buchhandlungen ihre Umschläge zu den entsprechenden Werken an, und auf der professionell wie routiniert wirkenden Internetseite können jederzeit Bestellungen und Vorschläge gemacht werden.

Ansonsten besteht das Projekt „Buch Tuning“ aus einem Koffer, und der ist noch nicht ganz in Berlin angekommen. Langsam packt Line Wasner die Bücher mit ihren zarten Umschlägen wieder ein. Es herrscht noch Baustellenatmosphäre. Unter den Werken ist auch Albert Camus „Der Mythos des Sisyphos“, merkwürdigerweise mit einem Kran versehen. Sisyphos ist von den Göttern dazu verdammt, immer wieder einen herabrollenden Stein den Berg hinauf zu tragen. Doch Camus’ Interpretation des antiken Mythos nach liegt das Glück des Lebens genau in dieser sinnlosen Wiederholung. „Was aber wäre“, hat sich Line Wasner gefragt, „wenn Sisyphos einen Kran hätte, also schneller arbeiten könnte, und ihm mehr Zeit bliebe? Wäre er dann ein unglücklicher Mensch?“ Herausfordernd spinnt sie Camus’ Philosophie weiter und in die heutige Zeit hinein. Nicht zuletzt ist es ihre eigene bescheidene Baustelle – frei von allem technischen Hilfswerk –, die wegrationalisiert werden könnte.

Vielleicht nehmen sich Timo Knöpper und Line Wasner aber auch ein Beispiel an Raymond Radiguets cleverem Helden und schleichen sich an allen öffentlichen Institutionen vorbei in einen fremden Markt. Zu wünschen wäre es ihnen allemal.

www.buch-tuning.de