Von Blair belohnt für seine treuen Dienste

John Scarlett, Autor des Irak-Dossiers vom September 2002, ist neuer Chef des britischen Auslandsgeheimdienstes MI 6

Es kommt nicht häufig vor, dass ein Geheimdienstchef zum Rücktritt aufgefordert wird, noch bevor er das Amt überhaupt angetreten hat. John Scarlett war Vorsitzender des britischen Geheimdienstausschusses, der im September 2002 das Dossier über den Irak zusammengestellt hat. Dieses Dossier enthielt die falsche Behauptung, dass irakische Massenvernichtungswaffen binnen 45 Minuten einsatzbereit sein können. Premierminister Tony Blair nutzte das Dossier als wichtigstes Argument für den Angriff auf den Irak.

Lord Butler rügte die Geheimdienste in seinem Untersuchungsbericht Mitte Juli für die schlampige Arbeit, pries aber ausgerechnet Scarlett. „Uns ist klar, dass unser Bericht Forderungen nach dem Rücktritt Scarletts als neuer Chef des Geheimdienstes auslösen könnte“, so Butler. „Wir hoffen aber sehr, dass er das nicht tun wird. Wir schätzen seine Fähigkeiten und seine bisherige Arbeit hoch ein.“

Eine Reihe von Labour-Hinterbänklern war anderer Meinung und stellte den Antrag, Scarlett zu entlassen. Sie kamen damit nicht durch. Gestern trat Scarlett sein Amt als Chef der Auslandsspionage MI 6 an. Es ist der Lohn für treue Dienste: Bei der Untersuchung von Lordrichter Hutton im vorigen Jahr hatte sich Scarlett schützend vor Premierminister Blair und dessen Chefpropagandisten Alastair Campbell gestellt. Er behauptete, dass er allein verantwortlich für das Irak-Dossier sei und ihn niemand bei der Formulierung beeinflusst habe.

Scarlett, der in knapp drei Wochen 56 Jahre alt wird, hat in Oxford Geschichte studiert. Er ist verheiratet und hat drei Töchter und einen Sohn. Als Hobbys nennt er seine Familie, Geschichte und mittelalterliche Kirchen. Nach seinem Studienabschluss wurde er vom MI 6 rekrutiert und als Spion in Nairobi, Paris und schließlich als Stationschef in Moskau eingesetzt.

1992 arrangierte Scarlett, der perfekt Russisch spricht, die Flucht des ehemaligen KGB-Archivars Wassili Mitrochin nach Großbritannien. Er kam mit mehreren Koffern voller Geheimdokumente im Gepäck. 1994 wurde Scarlett nach der Affäre um einen Wirtschaftsspion in der russischen Rüstungsindustrie aus Russland ausgewiesen. 2001 trat er aus dem MI 6 aus und wurde Chef des Geheimdienstausschusses – drei Tage vor dem 11. September.

Nun ist er zum MI 6, der „Military Intelligence Section 6“, zurückgekehrt. Früher hätte man seinen Namen nicht erfahren, denn während des Kalten Krieges existierte der MI 6 offiziell gar nicht und unterlag keiner parlamentarischen Kontrolle. Inzwischen ist die Geheimniskrämerei geringer geworden, seit 1992 ist auch der Name des MI 6-Chefs bekannt. Dank seiner unrühmlichen Rolle bei der Verfassung des Irak-Dossiers ist Scarlett der Öffentlichkeit freilich längst bekannt. Interviews oder öffentliche Auftritte sind für ihn ab sofort tabu. So weit geht die neue Offenheit der britischen Geheimdienste dann doch nicht.RALF SOTSCHECK