Aus dem kalten Flandern

Isabelle Aubret, einst die wichtigste Chanteuse der kommunistischen Linken in Frankreich, Starinterpretin Jean Ferrats und Louis Aragons, gastierte im Tränenpalast nur für einen Abend mit Chansons des Belgiers Jacques Brel

Sie sieht umwerfend fragil aus, als sie die Bühne betritt. Ein schlanker Körper, lange, schmale, sehr schöne Arme: Isabelle Aubret. Sie trägt einen Hosenanzug von feinstem Textil. Aus zehn Metern Entfernung scheint es, als habe ihr das Altern nichts anhaben können. Das Haar weizenhell wie 1962, als Isabelle Aubret den Grand Prix Eurovision gewann. Damals, vor mehr als 41 Jahre, begründete das Chanson „Un premier amour“ ihren Ruhm als Alternative zur exaltierten Juliette Gréco und sicherte ihr zudem Aufmerksamkeit jenseits des Teeniewunders mit Frauen wie France Gall, Françoise Hardy und Sylvie Vartan.

Die Aubret, das war schließlich die Literatin unter den Chanteusen ihres Landes, die Duse der kommunistischen Linken, die Verehrte von Männern wie Louis Aragon und Jean Ferrat. In Lille geboren, wuchs sie selbst in einer dem sozialistischen Fortschritt verpflichteten Familie auf. Vater Arbeiter in einer Spinnerei, Isabelle das fünfte von elf Kindern. Ihr Weg schien vorgezeichnet, mit vierzehn Jahren ging sie selbst in die Fabrik.

Was damals allerdings auffiel, war eben ihre Stimme, sehr klar, sehr kräftig, durchsetzungsfähig auch gegen (und mit) Orchester, bühnentauglich nötigenfalls auch trotz schlechter Saalakustik: Knapp 18-jährig wurde sie für die höheren Aufgaben des französischen Chansons rekrutiert, Bruno Coquatrix, Chef des Pariser Olympia, wurde auf sie aufmerksam. Ihre erste Bewährungsprobe bewältigte sie bravourös mit einer Coverversion des Grand-Prix-Siegers von 1961 „Nous les amoureux“. Das brachte ihr obendrein die Nominierung für das Eurovisionsfestival des kommenden Jahres ein. Was damals die Juroren überzeugt haben mag, ist jedenfalls im Tränenpalast noch zu spüren: eine elegante Art des Unprätentiösen, die dennoch nicht so tut, als interessiere die Interpretin die Wirklichkeit ihrer Lieder nur in ästhetischer Hinsicht. Die Aubret, schrieb ein Kritiker früherer Tage, mache uns glauben, dass die Liebe der Kern ist, aus dem alles Gute entspränge – und bei ihr jedoch höre sich das nie banal, sondern wie eine nie gehörte Botschaft an.

Sie beginnt mit Brels Lied für alle, die an die Liebe in einer schwierigen Welt glauben: „Quand on n’a que l’amour“, wenn man nichts hat als die Liebe, das sei es immer noch schön zu leben, Liebe sei es, die das Wunder des Lebens schön möbliert. Bedankt sich für den warmen Applaus, sagt, dass es ihr in Berlin gefalle, und spult dann fast beängstigend sicher ein Programm mit fast zwei Dutzend Brel-Couplets ab.

Und welch Wunder, klingt doch ihre Stimme nur eine Spur weniger kristallen als vor langer Zeit. Jeder Ton sitzt, besonders in dem Chanson „Le plat pays“, des Belgiers Skizze des diesigen, kalten Flanderns, wo die Zeit sich schleppt, wo Bäume gegen den Wind verkrüppeln und die Mensch eher mürrisch wirken. Die Aubret schleicht sich an die Komposition vorsichtig heran, man spürt den Norden, die Abwesenheit von Opulenz, steigert sich zum Ende in diese melancholische Liebeserklärung an die Heimat Brels heran, „die die meine ist“. Vielleicht kann sie dieses Lied besonders nahbar singen, liegt doch das graue Lille nicht weit vom Ort des Liedes entfernt.

Natürlich singt sie auch „Ne me quitte pas“, das ist sie dem Publikum schuldig, denn sie mag geahnt haben, dass viele nicht ihretwegen gekommen waren – in Deutschland war sie ja nie ein Star –, sondern aus Liebe zu Brel. Immerhin meidet sie „Marieke“, weil es Zeugnis des Begehrens für eine Frau ist, und sie schafft es mit Delikatesse, „Amsterdam“ zu singen, ohne dass auffiele, dass raue Hafenszenen mit brelscher Cholerik von Frauen nicht gut interpretiert werden können.

Am Ende weicht die Aubret ein wenig von der Spur ab, singt neuere Kompositionen, auch das Lied „Berlin“: „Ich will ein Reisender sein, um die ganze Welt zu sehen“, sagt sie, und kurioserweise, heißt es weiter, habe man Berlin besucht, sei das auch schon eine ganze Menge. Verabschiedet sich und ihre vielleicht etwas zu schleppend aufspielenden Musiker mit einem „Danke“, verkauft an der Bar hernach CDs und hinterlässt den Eindruck, dass es ein kostbarer Abend war.

Warum? In den Liedern Aubrets waren die melancholischen Züge der Sechziger wiederzuhören. Schade, dass solche Konzerte mit Stars anderer Dekaden viel zu selten gegeben werden. JAN FEDDERSEN