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Wo Koffer Urlaub machen

„Manchmal haben wir den Koffer schon gefunden, ehe der Passagier überhaupt den Verlust bemerkt“Obst kommt Volker Hirm nicht ins Haus. Bomben fürchtet er weniger als die Invasion der Fruchtfliegen

AUS FRANKFURT/MAIN HEIDE PLATEN

Flug H 3449 aus Budapest ist längst gelandet, das Gepäckband leer. Fast leer, denn einsam dreht eine braune Reisetasche ihre Runden, stehen geblieben, vergessen. „Nein“, sagt Barbara Vorndran, „sie ist wahrscheinlich verwechselt worden“. Und damit hat die Leiterin der Gepäckermittlungsdienste der Lufthansa gleich zwei Kunden mehr: einen, der daheim merkt, dass er die falsche Tasche erwischt hat, und einen, der sein verlorenen gegangenes Gepäckstück sucht.

In einem Seitenraum der Gepäckausgabe im Untergeschoss des Frankfurter Rhein-Main-Flughafens wird es verwahrt werden, zusammen mit großen Koffern, sperrigen Kisten, Trolleys. „Solche Fälle klären sich schnell“, sagt Barbara Vorndran. Das dachte sie auch damals bei der Sache mit dem Hund. Doch dazu später mehr. Barbara Vorndran ist eine resolute Person mit blondem Kurzhaarschnitt, freundlich, aber bestimmt. Seit 34 Jahren arbeitet sie für die Fluggesellschaft: „Ich kenne das Geschäft mit allen Haken und Ösen.“ Ihr eigentliches Metier sind nicht einsame Taschen oder die Schusseligkeit der Passagiere, sondern die Steuerung fehlgeleiteter Baggage weltweit.

Gepäck verschwindet nicht einfach so und selten ist es wirklich weg: „Manchmal haben wir es schon gefunden, ehe der Passagier überhaupt merkt, dass es nicht im Laderaum seiner Maschine ist.“ 70 Millionen Gepäckstücke, aufgegeben von 40 Millionen Passagieren, transportiert die Fluggesellschaft jährlich. Fehlgeleitet, sagt sie, werden nur 0,3 Prozent. Und davon findet die Fluggesellschaft 95 Prozent gleich wieder, noch einmal vier innerhalb einer Woche, eines bleibt verschwunden.

Rhein-Main als internationales Drehkreuz hält sich etwas auf seine kurzen Umsteigezeiten zugute. Und genau das ist das Problem des Gepäckermittlungsdienstes. Bei kurzem Transfer und verspäteten Ankunftszeiten kommt das Gepäck wegen der verschärften, also langwierigeren Sicherheitskontrollen nicht rechtzeitig in die gebuchte Anschlussmaschine. Manchmal läuft es auch einfach weg. Wie damals dieser Hund.

Normalerweise sei es aber so, erklärt Vorndran: Während der Fluggast im Flieger ahnungslos in den Süden oder sonst wohin abhebt, ist sein zu spät angelieferter Urlaubskoffer zwar noch am Boden, meist aber schon registriert und im besten Fall mit der nächsten Maschine ebenfalls unterwegs zum Zielort. Der Besitzer wird bei Ankunft informiert, kann warten oder bekommt das Gepäck kostenlos nachgesandt. Bei Verzögerungen gibt es als Soforthilfe bis zu 200 Euro zur Anschaffung des Nötigsten oder ein Overnight-Kit „mit allem, was man so braucht“ – Duschgel, Zahnpasta, Haarshampoo. Bei einem verlorenen Hund ist das schwieriger.

Grundsätzlich gilt es natürlich zu vermeiden, dass Passagier und Gepäck getrennt werden, sagt Vorndrans Kollege Thomas Schubert. „Aber mal ehrlich, es kommt vor.“ Gepäck hinterlässt elektronische Spuren, wird anhand der Anhängerkennung auf seinem Weg immer wieder registriert: „Eine Odyssee gibt es nicht“, sagt der Logistikexperte. Schubert vertraut seinem elektronischen Suchsystem, dem weltweit 360 Airlines angeschlossen sind: „Im Zweifel werden wir den Besitzer immer irgendwo in der Welt wiederfinden.“ Entweder auf der Passagierliste der nächsten Maschine oder der einer anderen Fluggesellschaft. Und wenn nicht? „Dann warten wir, bis der Passagier sich meldet.“

Allein in Frankfurt treiben 120 psychologisch geschulte Mitarbeiter Krisenmanagement im 24-Stunden-Service. Die sieben Kundenschalter, einer First Class, in der Halle B sind in den Firmenfarben Grau/Orange gehalten, die Atmosphäre ist gedämpft, zur Beruhigung werden Getränke angeboten. Alles, nur keine Aufregung, denn aufgeregten Menschen versagt oft die Erinnerung. Und viele Passagiere tun sich ohnehin schon schwer genug damit, ihr Gepäckstück zu beschreiben – auch jenseits von Sprachbarrieren.

Barbara Vorndran präsentiert einen doppelseitigen Musterbogen namens „Airline Baggage Identication Chart“. Das Formular ist international und versehen mit einer Farbskala nicht nur für Koffer- und Taschentypen 01 bis 25, sondern auch für alles, „was sonst noch verloren gehen kann“. Gitarre, Fahrräder, Kinderwagen, Skier – oder eine Hundebox. Und Frau Vorndran betont: „Nicht alle Koffer sind immer nur schwarz – zumindest nicht innen.“ Deshalb muss auch der Inhalt genau beschrieben und der Verlust teurer Luxusgüter mit Quittungen belegt werden und „angemessen“ erscheinen. „Einem Jeanstyp“ glaubt Frau Vorndran den Verlust der Designergarderobe nicht unbesehen.

Bei Holger Hirm geht es hausbackener zu. Zwischen Geldwechselstube und Schwarzwaldstübchen ist das „Lost & Found“-Büro der Flughafenbetreiberfirma Fraport untergebracht, Öffnungszeiten von 8 bis 18 Uhr. Vorne ein einziger Schalter, dahinter ein Raum mit den Computern, die jedes Fundstück registrieren und in ein elektronisches Regal einordnen nach Datum, Beschaffenheit, Farbe, Größe. Im dritten Raum stehen die realen Regale, oben Regenschirme, darunter Schals und Hüte – Filz, Stroh, Panama. Jacken, Koffer, Taschen, Spielzeug, ein lila Hase, der rosa Pudel, der große braune Teddybär. Nur keine echten Hunde.

Hier stapelt sich alles, was die Menschen auf einem Airport vergessen und verlieren können. „Und da“, sagt Hirm, „gibt es wirklich nichts, was es nicht gibt.“ Hirm weiß, wovon er spricht, seit sechs Jahren ist er Sachbearbeiter im Fundbüro. Er mag seine Arbeit. Er ist ein ruhiger, freundlicher Typ mit sanften Augen und korrekt gebügeltem Hemd. Einer, der Vertrauen einflößt.

Und das muss er auch. Manchmal, so Hirm, „geht es nicht um den materiellen, sondern um den sentimentalen Wert“. Da müsse man sich einfühlen. „Der Lieblingsschal ist weg oder ein altes Collier von der Oma. Das ist schlimm für die Leute.“ Noch schlimmer, wenn die Weiterreise auf dem Spiel steht, weil Tickets, Ausweise, Geldkarten fort sind – oder der eigene Hund. „Die Menschen sind verzweifelt. Da muss man schon gute Nerven haben.“ Eine psychologische Ausbildung hat Hirm zwar nicht: „Wir wissen aber, dass wir nicht zurückschreien, wenn hier einer rumbrüllt.“ Ansonsten bemüht man sich, das Problem zum Protokoll zu versachlichen. Auf die Frage nach dem Was folgt die Frage nach dem Wo.

Die häufigsten Orte des Vergessens sind die Sicherheitskontrollpunkte. In den Plastikschalen oder auf den kleinen Rollbändern neben den Metalldetektoren da bleiben sie liegen, die Brillen, die Autoschlüssel, die Brieftaschen, während der Passagier auf den letzten Drücker längst zum Gate davongestürmt ist.

Neben falschen Markenuhren aus Fernost findet sich da auch manches Wertvolles an. Schmuck, der auf den Waschbeckenablagen vergessen wurde, Brieftaschen am Zeitungsstand. Hirm hat aber festgestellt, dass vieles, was in seinen Regalen landet, schon vorher Abfall war „oder absichtlich liegen gelassen worden ist“ – dem Müll näher als dem Gebrauchsgegenstand, manches heimlich weggeworfene Diebesbeute. Alles muss dennoch fristgemäß aufbewahrt werden. Die Koffer sind sicher, geröntgt, mehrfach kontrolliert von Sicherheitsdiensten, Bundesgrenzschützern, Sprengstoffspürhunden, manchmal vorsichtshalber „aufgeschossen“.

Selbst haltbarere Lebensmittel registriert der Computer und mahnt nach einer Woche an, dass Konserven, Kaugummi, Bonbons nun ebenfalls entsorgt werden müssen. Verderbliche Ware wird allerdings sofort weggeworfen. Obst kommt Holger Hirm nicht ins Haus. Vor Bomben fürchtet er sich weit weniger als vor einer Invasion der Fruchtfliegen.

Nach drei Monaten Lagerung werden die Fundsachen ausgemustert und einer Versteigerungsfirma übergeben. So weit kommt es aber in vielen Fällen nicht. 19.500 Fundstücke wurden 2003 registriert, rund „5.000 glückliche Besitzer“ freuten sich über die Rückgabe, und Hirm freut sich mit ihnen: „Die könnten uns knutschen!“

An diesem Montagmorgen gibt es wenig Tränen und wenig Grund zum Knutschen. Es bleibt ungewöhnlich ruhig. Ein Amerikaner vermisst seinen Koffer, gefunden wurde es bisher nicht. Hirm sagt leise „Sorry“. Da sei hier schon weit mehr los gewesen, sagt Hirm. Da war zum Beispiel dieser Japaner, der sein Gebiss verloren hatte. Drei standen im Fundbüro zur Auswahl. Der Mann probierte sie alle aus, eins passte. Ob es wohl wirklich seines war? „Naja“, sagt Hirm, „ohne Gebiss wäre der Urlaub wohl gegessen gewesen“.

Manchmal kann sich allerdings auch Hirm nur noch wundern. Wer nur ließ die überdimensionale Weltkarte liegen und wer diese beiden zusammengebundenen Besenstiele? Die Leute sind so schusselig. Er jedenfalls ist gegen das Vergessen gefeit: „Seit ich hier arbeite, habe ich nie wieder was verloren.“

Eine Sicherheitsangestellte bringt ein schwarzes Täschchen. Eine Visitenkarte liegt dankenswerterweise obenauf, Adresse Birmingham, Alabama. Es sieht nach einem einfachen Fall aus. Aber man kann nie wissen – seit dieser Sache mit dem Hund.

Beim Umladen in Frankfurt war er aus der Transportbox entwischt, erzählt Barbara Vorndran. Der Besitzer flog heim nach New York, der Hund nicht. Zwei Tage später hat ein Mitarbeiter den Beagle in einem nahen Tierheim aufgespürt und postwendend in die USA geschickt. Die Wiedersehensfreude währte kurz. Herrchen sagte „Sorry!“ Er vermisse eine Hündin, den Rüden wolle er nicht.

Noch einmal habe man dem Tier die Reise über den Atlantik nicht zumuten wollen. Ein Lufthansa-Mitarbeiter in Übersee nahm ihn bei sich auf. Nur, fünf Tage später meldete sich das Tierheim wieder. Ein Anwohner vermisse seinen Beagle-Rüden. Auch der Rücktransport ging auf Kosten der Fluggesellschaft. Und so blieb die New Yorker Hündin eines der wenigen Gepäckstücke, das wohl für immer verschwunden ist.

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