ausgehen und rumstehen
: Jetzt wird der Sommer ignoriert: Leere Strände, volle Konzerte und der Glamour von Gestern

„Warum willst du dich bei diesem Wetter in geschlossene Räume begeben und schwitzen gehen“, hatte tags zuvor noch eine Freundin zu Recht bemerkt. Am Lehrter Stadtbahnhof dann aber, wo sie mit den Zehen im Sand wühlen wollte, musste sie feststellen, dass es ihr niemand gleichtat – dass sie fast allein war am Strandersatz. So kam sie also später doch noch nach, zum Roten Salon, wo sich schon eine Stunde vor Einlass Menschentrauben formten.

Es ist, als habe der ausgehwillige Berliner beschlossen, den Sommer jetzt, wo er sich so lang bitten ließ, endgültig zu ignorieren– denn anders ist kaum zu erklären, warum er sich bei einer gefühlten Regenwahrscheinlichkeit von zwei Prozent in einen Club drängen wollte, der für seine mangelhafte Klimaanlage berühmt ist. An der Band, einer eher durchschnittlichen Frauengruppe aus Japan, die sich auf das Nachspielen von Beatmusik aus den Sechzigerjahren kapriziert, kann es nicht gelegen haben.

Zugestanden: Wahrscheinlich waren die Gäste nicht nur wegen der tollen Wespennestfrisuren der 5, 6, 7, 8’s gekommen – oder weil sie so charmant kurzatmig singen. Vermutlich waren die meisten Leute wegen des Auftritts der 5, 6, 7, 8’s in Quentin Tarantinos „Kill Bill 1“ erschienen. Ein Kollege erzählte, dass die 5, 6, 7, 8’s schon einmal vor vier Jahren im Roten Salon gespielt haben – vor etwa acht Zuschauern. Ein anderer meinte, dass in den letzten Monaten zwei bessere, weil schnellere und originellere Neo-Sixties-Bands aus Japan hier aufgetreten sind und kaum Publikum hatten. Was der Kollege nicht zu sagen wusste: Warum es in Japan jetzt so viele Revivalbands geben soll, ob dort Rockabillys die Clubs bevölkern wie hier, Anhänger dieser unkaputtbaren Jugendkultur, wie man sie auch an diesem Abend im Roten Salon studieren konnte – oder ob Bands wie die 5, 6, 7, 8’s in Japan doch eher nur für Hochzeiten gebucht werden.

Jedenfalls stellten sich keinerlei Verlustgefühle ein, als die 5, 6, 7, 8’s zur letzten Zugabe übergingen. Die Menschen strömten schnell nach draußen und schnappten hektisch nach Luft. Unmöglich, so durchgeschwitzt nach Hause zu gehen – es galt, zum Durchlüften noch eine Kneipe zu finden. Warum nicht in die 8mm-Bar, nur ein paar Ecken weiter? Hier soll es doch in letzter Zeit so nett geworden sein.

Die 8mm-Bar in der Schönhauser Allee, gleich unterm Pfefferberg, ist ein öder Ort, ein schwarzes Loch mit grauen Wänden, ein Nichts. Hier muss die Heiterkeit von innen kommen, es braucht alle Fantasie, diese Leere zu füllen – an diesem Abend eine besonders knifflige Aufgabe, da nur noch etwa sieben Verstreute herumsaßen, zwei von ihnen küssten sich, einer las Zeitung, eine lehnte schlafend an der Wand. Und während man also etwas ratlos auf die Getränkekarte starrte und überlegte, welche Getränke unter die unspezifizierten Rubriken „Softdrinks“ und welche unter „Longdrinks“ fallen, während man also erkannte, dass diese Absturzbar von Eigeninitiative lebt, fiel auf einmal die Musik auf, der einzige Reiz, der in der 8mm-Bar von außen kommt.

Und wirklich: Noch immer kümmerte sich ein DJ engagiert um seine sieben Zuhörer – ein DJ übrigens, der aussah wie ein Neffe von Vincent Gallo. Und plötzlich flockte folgende Frage aus: Warum eigentlich kann man zwanzig Jahre alte Gitarrenmusik von The Cure oder den Sex Pistols so unterschiedslos mit neuer Musik von The Rapture oder Modest Mouse mixen, warum wollen heute alle wieder diesen pathetischen Gesang? Und wieso fühlt sich dieses nicht enden wollende Revival der Achtziger trotzdem immer noch wilder und gefährlicher an als das der Sechziger, wie man es kurz zuvor im Roten Salon erleben musste?

SUSANNE MESSMER