Berliner Ökonomie
: Sozialer Kosmos Internetcafé

Ein und dasselbe Internetcafé kann ganz unterschiedliche Interessen bedienen. Zum Beispiel in Berlins PC-Bezirk Prenzlauer Berg: Da sind als Erstes morgens die vielen Studentinnen, die dort für ihre Magisterarbeit recherchieren – ungeachtet der Hinweise ihrer Dozenten, dass es auch noch andere Quellen als Suchmaschinen gibt, „Bücher zum Beispiel“.

Ihre Googelei lässt erst nach, wenn sich die Schüler vom nahen Gymnasium einfinden: Sie verkaufen Rauschgift in kleinen Mengen – bei gutem Wetter vorm und bei schlechtem im Laden. Manchmal muss die Bedienung sie ermahnen, leiser zu sein. Danach kommen die ersten Schulabbrecher, um sich erst mal eine Stunde an Videospielen abzureagieren oder auch aufzuputschen, bevor sie untereinander das Gespräch suchen und leise fachsimpeln. Wären es nicht scheue Einzelgänger, könnte man sie für eine verschworene Clique halten. Etwa zeitgleich tauchen die ersten Touristen aus Spanien und Finnland auf, um ihre E-Mails durchzuchecken. Aus demselben Grund kommen ab und zu auch ältere Geschäftsleute in den Laden, oft mit Sonderwünschen: eine Diskette oder CD ausdrucken, einen Text darauf verschicken oder eine Adresse „aus dem Computer rausfischen“ lassen.

Die Bedienungsmannschaft besteht pro Schicht aus zwei Personen. Sie haben künstlerische Ambitionen, die sich u. a. in Ausstellungen im Laden äußern – mit Einladungskarten-Entwerfen und -Verschicken, Vernissagen-Ausrichten und Preislisten-für-die-Bilder-Auslegen. Das zieht einen kleinen, aber kontinuierlichen Strom Kunstinteressierter an, für die das Internet und seine Benutzer eine interessante Location ist. Ansonsten wollen sie die Bilder sehen und an der Theke über Kunst reden.

Zuletzt hingen dort computerbearbeitete Fotos von Hans, einem bayrischen Künstler, der vom Webpage- und Anzeigen-Gestalten lebt. Zwar hat er die dafür nötigen Geräte alle zu Hause. Aber er liebt die Atmosphäre im Café, weil da, so sagt er, seine „Enduser“ sitzen. Außerdem ist er lose mit der Thekenfrau Anne befreundet, die einen großen Freundeskreis hat, der regelmäßig vorbeischaut – nur um zu quatschen und irgendwelche Mixgetränke zu bestellen, die Anne sich fast alle selbst ausgedacht hat.

Lange Zeit wurde dort die Geschichte der „Rothaarigen“ verfolgt, die fast jeden Vormittag in den Laden kam, um ihre E-Mails zu lesen, die sie aber oft unzufrieden werden ließen. Sie sah so aus, als könnte sie sich einen Netzanschluss zu Hause leisten. Man fand heraus, dass sie verheiratet war und per Internet die Bekanntschaftsanzeigen der Stadtmagazine Tip und Zitty beantwortete – d. h. all jene „M sucht W“-Annoncen, hinter denen eine E-Mail-Adresse stand. Zumindest ihre erste E-Verabredung traf sie dann in einer Kneipe um die Ecke, wo man sie dann auch schon mehrmals gesehen hatte. Eines Mittags entpuppte sich eine neue Verabredung dort als ihr Ehemann, der ebenfalls auf elektronische Partnersuche gegangen war, wobei er die „W sucht M“-Annoncen in den beiden Stadtmagazinen durchkämmte. Seine E-Mail-Adresse war: intimitaet@yahoo.de, während seine Frau ihre jeden Monat änderte – zuletzt in Juli@freenet.de. Er änderte dafür in jeder Kleinanzeige seinen Text. Einer lautete: „Großer, schwarzhaariger Mann, niveauvoll und unabhängig, sucht spontane Frau für unkomplizierte Liebe – auch gern in freier Natur.“ Ihr Standardtext lautete dagegen: „Mann für unkompliziertes Zusammensein gesucht, von rothaariger F. (32/170/schlank) – nicht nur zum Reden.“

Als die beiden in der Kneipe aufeinander trafen, war er entsetzt in der Tür wieder umgedreht. Zwar dachte sie im ersten Moment: „Scheiße, der muss sich aber eine ganz andere Frau erhofft haben“, aber dann dämmerte es ihr – und sie war genauso entsetzt wie er, um dann aber um so erleichterter darüber zu sein, dass ihr Mann sie nicht in flagranti erwischt hatte. Der blieb jedoch in der Nähe und beobachtete die Kneipe. Sie stand irgendwann auf und ging auch, froh, dass der unbekannte Mann, mit dem sie meinte, verabredet gewesen zu sein, nicht erschienen war. Vor der Tür wollte sie schon den Weg zum Internetcafé einschlagen, als sie ihren Mann dort stehen sah: Sie lief auf ihn zu und begrüßte ihn herzlich. Nach einem kurzen Wortaustausch gingen die beiden aber verlegen zurück in die Kneipe, wo sie sich aussprachen und zumindest einen Teil ihrer Partnersuchbemühungen beichteten. Dann musste der Mann wieder zurück zur Arbeit. Auch die Frau zahlte und ging. Angeblich soll sie jetzt in einem Internetcafé zwei Straßen weiter verkehren.

In das, das Hans’ Fotos ausstellt, kommen dafür jetzt regelmäßig drei stoppelbärtige junge Männer, die gemeinsam im Chatroom von Brigitte nach Partnern suchen. Manchmal lassen sie sich ein attachtes Nacktfoto farbig ausdrucken. HELMUT HÖGE