Der Fahnder mit dem Becherchen

AUS BERLIN, BONN UND KÖLN KIRSTEN KÜPPERS

Steffen Kursawe steht mit einem Koffer in der Hand vor einer Haustür. Er drückt auf das Klingelschild. Es passiert nichts. Und da zeigt es sich schon. Morgens um 8 Uhr 35 vor einem pastellgelben Plattenbau in Berlin-Marzahn. Die Mühsal des Steffen Kursawe. Das ganze Drama der steckengebliebenen Anfänge und fehlgeschlagenen Versuche. Die Unvermeidlichkeit des Wartens, der langen Wege, der verschlossenen Türen.

Steffen Kursawe ist Dopingkontrolleur von Beruf. Einer der erfahrenen Männer in der Branche. Er hat den Radsportler Jan Ullrich überprüft und den Boxer Graciano Rocchigiani. Heute braucht er einen Becher Urin von dem Mann, der in einer Hochparterrewohnung in Berlin-Marzahn wohnt. Im Kofferraum von Kursawes Opel wartet eine blaue Kühltasche.

Der Sportler ist eine deutsche Olympiahoffnung. Sein Name soll hier nicht genannt werden, es handelt sich um einen Sprinter. Kursawe braucht seinen Urin, damit die Menschen weiterhin an die Ehrlichkeit und die Leistung des Sprinters glauben dürfen. Aber es ist so wie oft, wenn Kursawe die Wahrheit sucht: Der Sportler ist nicht zu Hause.

Kursawe läuft zum Auto zurück. Die Ärmel seines gemusterten Hemdes flattern, die Luft ist diesig. Es ist der Moment, in dem aus einer Überraschung eine angekündigte Dopingkontrolle wird. Kursawes Augen werden eng, er tippt die Nummer des Sportlers in sein Handy. Das Gespräch ist kurz. Kursawe bleibt freundlich, aber er bellt seine Sätze. Der Sportler sagt, er habe bei seiner Freundin übernachtet. Kursawe hat keine Zeit, es muss jetzt sehr schnell gehen. Er bestellt den Sprinter zum Trainingszentrum auf dem Olympiagelände. In einer Stunde. Er soll sich beeilen. „Und Sie wissen ja, nicht mehr auf die Toilette gehen bis dahin!“ Kursawe schaltet die Klimaanlage ein und fährt los.

Gegen das Böse im Sport

Irgendwo im Umland von Berlin verabschiedet sich ein Hochleistungssportler von seiner Freundin, er weiß, er kann jetzt nichts mehr tun. Er kann einen Eimer Wasser trinken. Es wird nichts nutzen. Er kann sich nur ins Auto setzen und gehorchen.

Die „Nationale Anti Doping Agentur“, kurz Nada, ist in einer kleinen Villa in Bonn untergebracht. Der Chef, Roland Augustin, ist ein Mann mit dunklem, bürstigem Haar. Gegen die Ernsthaftigkeit seines weißen Hemdes leuchtet eine gepunktete Krawatte. Gegen das Böse im Sport schaut Roland Augustin in den Bildschirm auf seinem Schreibtisch. Im Computer sind alle Leistungssportler gespeichert, die das Land hat. Ein scheinbar perfektes Überwachungssystem. Der Computer kennt die Privatadressen aller Sportler. Wenn ein deutscher Fußballer in Urlaub fährt, muss er der Nada den Namen des Hotels mitteilen, wenn er die Verwandtschaft in Niederfranken besucht, muss er sie genauso informieren.

Die zweite Waffe der Nada sind Kontrolleure wie Steffen Kursawe. Vierzig von ihnen sind in ganz Deutschland im Einsatz. Ein Zufallsgenerator bestimmt, wer überprüft wird. Die Kontrolleure können die Sportler dann am Wochenende überraschen, vor dem Frühstück, sie können abends nach der dritten Schnapsrunde bei der Familienfeier erscheinen. Sie kontrollieren das ganze Jahr.

Gefallene Helden

Aber wenn in zwei Wochen wieder das Olympiafieber die Menschen befällt, wenn sie schon morgens vor den Fernsehern sitzen und schwitzen, wenn Hundertstelsekunden wichtiger werden als alles in der Welt – dann wird auch diesmal irgendwo im Hintergrund die Enttäuschung lauern. Sie tritt ein als Nachricht über positive Dopingproben. Die Helden fallen, die Gefühle der Fans sind verletzt.

Kann der Chef einer Antidopingagentur von einem Schreibtisch in Bonn aus diese Unausweichlichkeit aufhalten, die falsche Freude, die zurückgegebenen Medaillen? „In Deutschland wird bereits während des Trainings mehr kontrolliert als in jedem anderen Land“, antwortet Augustin. Zum Beweis holt er einen Ordner mit Säulendiagrammen zu den Kontrollen bei den Leichtathleten im letzten Jahr. Die Säule für Deutschland ist hoch, die Säulen von Russland und Jamaika sind flach. Hat man das Dopingproblem also in Deutschland im Griff?

Augustin lacht. Er ist gelernter Lebensmittelchemiker. Er weiß, dass Statistiken viel sagen – die Realität beleuchten sie nur schwach. „Nö“, sagt Augustin also. „Das Netz ist engmaschiger geworden. Aber ohne die Tipps aus der Szene könnten wir aufhören.“ Deswegen beobachtet Augustin auch das Internet, besonders die Chats der Bodybuilder sind interessant. Ein neues Präparat werde zuerst in den Fitnessstudios ausprobiert, bevor es bei anderen Sportlern ankomme. „Denn“, sagt Augustin, „in jeder Disziplin können mit Doping Leistungssteigerungen erreicht werden.“

Und das sind dann die Sätze, die Zweifel keimen lassen. Längst gibt es diese Sportarten, wo keiner mehr an Wunder glaubt. Wo Geldmenschen regieren, wo es Skandale gegeben hat und Koffer voller Steroidkapseln. Augustin hat ein Büro und einen Computer. Kann eine Institution wirklich schneller sein als der Geschwindigkeitsrausch, schneller als das Nicken des Trainers mit der Stoppuhr, schneller als die Besten der Welt?

Augustin will nicht, dass jemand fälschlich beschuldigt wird. Er holt aus: „Vor zehn Jahren ist ein Profiradsportler 30.000 Kilometer im Jahr gefahren. Heute radelt er 40.000 Kilometer. Das ist ungeheuer! Natürlich reicht da Knäckebrot nicht aus. Deswegen müssen noch lange nicht alle Radsportler gedopt sein.“ Er spricht von neuen Trainingsmethoden, von leichterem Material und dem niedrigeren Gewicht der Sportler. „Selbstverständlich müssen wir trotzdem Kontrollen durchführen.“ Es wirkt so, als wolle sich der Chef der Nada nicht unbeliebt machen bei den Radsportlern.

Steffen Kursawe läuft in einer leeren Berliner Turnhalle auf und ab. Er wartet immer noch auf den Sprinter aus Marzahn. Gegen die Langeweile sagt Kursawe: „Ohne Begeisterung kann man den Job nicht machen.“ Er guckt auf eine dicke Matte, die in der Halle liegt. Früher hat Kursawe selbst Leistungssport getrieben. Hochsprung. Jetzt ist er 41, und eine Unbeweglichkeit hat sich in die Knochen geschlichen. Dafür läuft zu Hause jetzt immer der Sportkanal.

Kursawe kennt alle Protagonisten, alle Zwischenstände, alle Zeiten. Er weiß, wann der beste deutsche Hürdenläufer geheiratet hat, wann der andere ein Haus gebaut hat, wann die Kinder krank sind. Er hat schon in Krankenhäusern und Einkaufszentren Urinproben genommen. Das Warten dauert, er guckt auf die Uhr.

Endlich kommt der Sprinter. Kursawe geht mit ihm zur Toilette. Er darf ihn jetzt nicht aus den Augen lassen. Es gibt die Tricks: ein mit fremdem Urin gefüllter Tennisball unterm Arm, ein Kondom oder eine Ampulle im Hintern. Die Leichtathletin Kathrin Krabbe hat damals eine Probe abgegeben, die dasselbe Urin enthielt wie die Proben von zwei anderen Sportlerinnen ihres Teams. Es kann sein, dass es das Urin der Frau des Trainers war, vielleicht von jemand anderem. Kursawe kann sich nicht vorstellen, dass ihm so etwas passiert, aber er passt auf.

Wenn der Becher voll ist, füllt der Sprinter sein Urin in zwei Glasflaschen. Die Flaschen tragen eine Nummer, keinen Namen. Sie werden als anonymes Paket ins Labor geschickt. Der Sprinter unterschreibt hastig ein Formular, schwingt den Rucksack über die Schulter, eilt mit steifen Schritten davon. Er ist in diesem Jahr schon viermal kontrolliert worden.

Urin der besten Sportler

Ein Kurier fährt die Proben mit einem Lieferwagen nach Köln. Das Institut für Biochemie liegt im siebten Stock der Sporthochschule. Hans Geier trägt eine Nickelbrille und einen weißen Kittel, er steht inmitten von Flaschen mit gelber Flüssigkeit. Das Urin der besten deutschen Sportler lagert hier, außerdem die Proben von iranischen Gewichthebern und italienischen Fußballern. Etwa 10.000 Tests werden jedes Jahr in Köln durchgeführt. Damit gehört das Institut zu den bedeutendsten Dopingkontrolllabors der Welt.

Und vielleicht sagt Hans Geier deswegen gleich etwas, das klingt, als habe er das moderne Prinzip der globalisierten Service-Gesellschaft verinnerlicht: „Wir sind keine Polizei. Wir sind Dienstleister. Wir schützen die Sportler vor Missbrauch und falschen Beschuldigungen.“

Das mag unangebracht scheinen, angesichts der knapp 200 Proben, die das Institut jedes Jahr als positiv analysiert. Geier und seinem Team ist es zu verdanken, dass beim Kugelstoßen die Weltbestleistung der Frauen seit 1998 um fast zwei Meter zurückgegangen ist. „Wahnsinn“, sagt Geier und nickt fahrig. Er redet weiter. Ein Testergebnis kann sich draußen im Leben unterschiedlich auswirken – drinnen im Labor sind die Abläufe immer gleich: Findet er in einem Urintropfen die Spuren von einem Milliardstel Gramm einer anabolen Substanz, meldet Geier die Probe als positiv bei der Nada. Diese ordnet der anonymen Kennziffer der Probe wieder den Namen des Sportlers zu und informiert den Verband. Wird dann auch die zweite Probe positiv getestet, geht der Fall ans Verbandsgericht. Geier sagt: „Wir müssen sauber arbeiten. Ein beschuldigter Sportler wird alles tun, um das Gegenteil zu beweisen.“ Er legt viel Kummer ins Gesicht und schickt hinterher: „Es geht schließlich um Existenzen!“

In Berlin läuft Steffen Kursawe mit seinem Koffer zum Auto. Bevor er wieder ans andere Ende der Stadt fährt, einen anderen Medaillenanwärter sucht, der nicht zu Hause ist, bevor er wartet, weitersucht, den Wassersportler doch findet und wieder warten muss – diesmal bis der Sportler pinkeln kann –, und sie diese etwas peinliche Pause füllen mit ein paar spöttischen Bemerkungen über die Griechen und unfertige Olympiaanlagen. Bevor Kursawe also die nächste Probe einsammelt, geht er zu seinem Opel mit der Kühltasche – da läuft der Trainer des Sprinters vorbei. Kursawe winkt. Der Trainer nickt, das Gesicht bleibt grimmig. Sie kennen sich vom Studium. Aber sie reden nicht. Der Trainer guckt und dreht dann den Kopf weg. Vielleicht hat er heute einen schlechten Tag. Wahrscheinlich findet er, dass Kursawe auf die falsche Seite gewechselt ist.