Winzling auf Adrenalin

Neuer Tag, neues Pferd: Heute beginnt die Große Rennwoche in Baden-Baden und der Alltag für Arnaud Bouleau. Der Jockey muss hoffen, dass sein Sportgerät nicht unter ihm tot zusammenbricht

von CLAUDIO CATUOGNO

In Gedanken sitzt Arnaud Bouleau fast immer auf irgendeinem Pferd. Irgendwo in seinem Kopf ist immer Renntag. Oft kann er schon morgens um halb zehn den Stall verlassen, dann geht er fernsehen, Playstation spielen. Aber immer sind da diese Wenn-dann-Szenarien: Bouleau auf Isarella, Bouleau auf Morettina, Bouleau auf Osino, eingeklemmt zwischen Nutbush und Moon of Paris. Wenn heute auf der Galopprennbahn von Baden-Baden die Große Woche beginnt, wird Bouleau an jedem der sechs Renntage mindestens einmal an den Start gehen.

25 Jahre ist er erst alt, doch schon längst kann man den Jockey Bouleau als exemplarischen Vertreter seines Berufsstandes bezeichnen. Mit 14 hatte er in Paris seine ersten Galopp-Auftritte, über 3.000 Rennen hat er seither bestritten. Manche der Pferde reitet er jeden Tag, hier, auf dem Gelände des Münchener Trainers Werner Glanz, bei dem er unter Vertrag steht. Doch die meisten sieht er kurz vor dem Rennen zum ersten Mal. Nimmt sie im Führring entgegen, peitscht sie über die Bahn und gibt sie wieder zurück. Wenn Bouleau das so erzählt, in der kleinen Stallküche, zwischen Pferdeboxen und Strohlager, klingt er wie ein Fließbandarbeiter. „Jockey sein“, sagt er, „das ist ein ganz normaler Job.“ Ist es das wirklich?

Mit seinen 48 Kilo ist der Franzose noch ein bisschen schmächtiger als all die anderen schmächtigen Männer, die hier im Stall unterwegs sind. Deshalb darf er öfters etwas essen als nur dreimal die Woche. Deshalb muss er sich nicht, wie viele seiner Kollegen, zum „Idealgewicht“ hungern. Um Jockey zu werden, muss einem die Natur einen Streich gespielt haben, das entscheidende Selektionskriterium ist ein geradezu winziger Körperbau. Deshalb gibt es viel weniger gute Jockeys als gute Pferde. Sie begegnen sich also jede Woche, immer die gleichen Jockeys, immer auf verschiedenen Pferden, manchmal in sieben oder acht Rennen hintereinander. Und dann noch einmal, beim Einkaufen oder beim Fernsehen. In den Gedankenspielen.

Der Start. „Das ist der Moment, in dem das Adrenalin kommt“, sagt Bouleau. Er kann das nur schwer beschreiben, „es ist ein Gefühl wie pure Energie“. Er selbst fühlt das erst, wenn auch das letzte Pferd in seine Startbox geführt wurde, „ich bin eigentlich ein ziemlich lockerer Typ“. Aber die ersten 150 Meter ist auch Bouleau nicht locker, wenn die Türen aufschlagen, die Pferde aus dem Stand heraus beschleunigen und ihre Reiter aus der Enge hinauskatapultieren. Erst nach und nach hat Bouleau dann wieder Zugriff auf sein eigenes Gehirn.

Oft werden dann in einer Minute die Pläne der ganzen Woche durcheinander geworfen. Während des Rennens bedeutet das Wort Taktik etwas ganz anderes als davor. In der Vorbereitung kann Bouleau abwägen, grübeln, Argumente im Kopf hin- und herschieben. Immer freitags studiert er die Zeitschrift Sport- Welt, hier wird die aktuelle Form aller Starter bewertet. „Alles spielt für die Taktik eine Rolle“, sagt Bouleau, „Gegner, Steckenlänge, Bodenbeschaffenheit, Lage der eigenen Startbox.“ Immer wieder schlägt er die Sport-Welt auf, legt sie beiseite, macht sich seine Gedanken, kramt die Zeitschrift wieder hervor.

Im Rennen heißt Taktik dann: Gedanken im Schleudergang. Das eigene Pferd zügeln, damit es nicht zu früh zu viel Kraft verliert. Manchmal reitet Bouleau absichtlich ganz hinten, um erst auf der Zielgerade an den Gegnern vorbeizupreschen. Meistens aber versucht er, ganz eng an den Favoriten zu bleiben. Mehr Strategie geht nicht. „Auf der Zielgeraden schießt dir schon wieder das Adrenalin in den Kopf. Vor allem wenn du merkst, dass du unter den ersten drei sein kannst.“

40 Mal hat es Bouleau in diesem Jahr schon aufs Treppchen geschafft – aber nie in einem der ganz großen Rennen. In der vergangenen Saison hätte es beinahe geklappt, da ist er den Großen Dallmayr-Preis geritten, das einzige Gruppe-1-Rennen in München. Der Rennverlauf war viel versprechend. Doch auf der Zielgeraden brach der Hengst Ifag Mannheim plötzlich unter Bouleau zusammen. Hinter Sichtblenden musste das Pferd noch auf der Rennbahn eingeschläfert werden. Plötzlich war Jockeysein mehr als nur ein Job. Aber spätestens, wenn er in Baden-Baden in die Startbox einrückt, muss Arnaud Bouleau das aus seinem Kopf haben.