Lebendiger Riese unterm Kiel

Die Hamburger Meeresbiologin Bettina Martin untersucht einzigartige Unterwasser-Biotope im Atlantik. Die Forschungsarbeiten werden von der EU gefördert. Die erlaubt zugleich jedoch die Zerstörung ebenjener Biotope

von Stephanie Janssen

Eine Forschungsreise auf See muss akribisch vorbereitet werden. Wochen vorher beginnt Bettina Martin Kisten zu packen, Platz für ihre Ausrüstung zu reservieren und den Dienstplan mit ihren KollegInnen abzustimmen. Die 45-jährige Hamburgerin gehört zu einem internationalen Team, das im vergangenen Frühjahr mit dem Forschungsschiff Poseidon den Seeberg Seine im Atlantik besuchte. Nord-östlich von Madeira erhebt er sich als gigantischer kalter Vulkan mehr als 4000 Meter hoch über dem Meeresboden der Tiefsee. Kein Freizeitschipper ahnt etwas von diesem Riesen unterm Kiel, denn die Kuppe von „Seamount Seine“ liegt noch 170 Meter tief unter dem Wasserspiegel verborgen.

Seeberge sind einzigartige Biotope. An ihren Hängen, auf ihren Plateaus und in der Wassersäule darüber bieten sie einer erstaunlichen Vielfalt an Pflanzen, Krebsen, Plankton und Fischen einen Lebensraum. Als wissenschaftliche Mitarbeiterin des Instituts für Hydrobiologie und Fischereiwissenschaften der Uni Hamburg arbeitet Bettina Martin im EU-Projekt OASIS mit Geologen, Ozeanographen und Biologen zusammen. Neben dem Seine erforschen sie einen weiteren Seeberg. Das Ziel: das Ökosystem möglichst ganzheitlich zu erfassen, zu verstehen und so besser schützen zu können.

Ein genauer Terminplan regelt, wann welche Arbeitsgruppe ihre Proben nimmt – damit sich große Netze und fragile Messstationen auf der zwölftägigen Seereise gegenseitig nicht behindern. „Aber an Bord passieren ununterbrochen Überraschungen“, sagt Martin. Das Wetter oder ein defektes Gerät machen regelmäßig einen Strich durch die ausgeklügelten Fahrtenpläne. Doch das reizt die Biologin: „Wir müssen dann irgendwie improvisieren. Das hier ist nicht planbar wie ein Laborversuch.“

Martin widmet ihre Forschungen dem Zooplankton. Gemeinsam mit dem pflanzlichen Plankton bildet es die Grundlage für jedes marine Nahrungsnetz. An Bord ist Martin die Herrscherin über das MOCNESS, ein elektronisch gesteuertes Netz, das auf Abruf gezielt in verschiedenen Tiefen Planktonproben nimmt. Zurück im Hamburger Labor bestimmt und zählt sie die tierischen Schwebeorganismen und vergleicht ihre Anzahl auf dem Plateau sowie am Hang mit der auf dem offenen Meer.

Die Einzigartigkeit der Unterwasser-Biotope macht sie gleichzeitig verletzlich. Seamounts stehen isoliert im Ozean, und viele ihrer Bewohner wachsen nur sehr langsam. Der Kaiserbarsch, auch Orange Roughy genannt, wird mehr als 100 Jahre alt, aber erst mit 30 Jahren geschlechtsreif. Viele werden schon als Teenager oder Twens weggefischt. „Davon kann sich der Bestand nicht mehr erholen, die sind dann einfach weg“, sagt Martin.

Die Auswirkungen sind unabsehbar. In einem Nahrungsnetz sind die Räuber gleichzeitig Beute für größere Tiere. Verschwindet eine Art, fehlt anderen dadurch die Nahrung und sie können verhungern. Gleichzeitig fällt für kleinere Tiere der Räuber weg, so dass sie sich massiv vermehren können und dadurch andere Arten verdrängen.

Pflügen Trawlerschiffe auf der Suche nach Fischen über die Bergkuppen, hinterlassen sie eine Unterwasserwüste. „Weil die Berge da so alleine stehen, kann sich das spezielle Nahrungsnetz nach einem Eingriff nur langsam oder gar nicht regenerieren“, sagt Martin. Denn das Meer rundherum bietet kaum Nachschub an Organismen, die einwandern könnten. Deshalb untersuchen die Forscher gezielt die Störanfälligkeit der Biotope und entwickeln dann Pläne zur vorsichtigen Befischung.

Aber das mit Geld der Europäischen Union finanzierte Projekt arbeitet gegen die Zeit. Rund um die Azoren, die Kanaren und Madeira bestanden 200-Meilen-Schutzzonen, in denen nur die schonende lokale Fischerei erlaubt war. Bernd Christiansen, Meeresbiologie und OASIS-Koordinator in Hamburg, berichtet, dass diese Zonen jetzt auf 100 Meilen verkleinert und damit an EU-Bestimmungen angepasst wurden. Europäische Fangflotten dürfen ihre Trawler jetzt außerhalb der Schutzbereiche einsetzen. Auf den beiden im Rahmen von OASIS erforschten Seebergen ist die Jagd eröffnet.