Die Welt aus der Perspektive des Seniorenheims

Auf der Suche nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner (kgN) der Generation Golf 2 (GG 2): Florian Illies las im Eggers & Landwehr-Café

Es ist die erste Lesung nach dem Bandscheibenvorfall, und weil die erlaubten zwanzig Sitzminuten des Tages schon verbraucht sind, steht Florian Illies am Vorleserpult. Zahlreich sind die Zuhörer erschienen, dicht gedrängt sitzt man auf den dunkelroten Lederbänken unter den Glasvitrinen mit den Büchern, an den mintgrünen Tischen, man steht an der Theke mit dem „Gateau Schoko“ oder sitzt einfach zu Füßen der anderen. Die meisten sind um die Dreißig, sie sind genau die Generation also, um die es geht.

Es muss, so darf man aus dem Sitzarrangement folgern, ein ziemlich kleiner gemeinsamer Nenner (kgN) sein, der die stehenden Jacketträger an der Theke mit denen verbindet, die es vorziehen, am Boden eines Literaturcafés mit Bistrocharme vor den Jacketträgerbeinen am Boden zu sitzen, neben sich Wolfskin-Rucksack und Fahrradsattel. Die einzig zulässige phänotypische Generalisierung des Publikums scheint der dürre Hinweis, die Frau der GG 2 trage ihr Haar eher lang, der Mann der GG 2 seines hingegen eher kurz und etwa fünfundsechzig Prozent hielten Jeans für die ideale Lesungsgarderobe. Weil aber zu diesen Jeans wahlweise Ringelshirts, Rastalocken, weiße Hemdem mit Perlohringen, Cordjacketts oder rote Plastikbrillen tragbar sind, und somit die eine modische Welt mit der anderen etwa so viel zu tun hat wie die Bodensitzer mit den Thekenstehern, erweist sich die Klassifikation des Erscheinungsbildes schnell als überflüssig. Was dann ist er, der kleinste gemeinsame Nenner der Generation Golf 2?

Ein zweites Buch, so beginnt Illies, sei nach persönlichem Gefühl notwendig geworden, zu einer Veränderung sei es gekommen, die neue Erfahrungen mit sich brachte. Und weil Berlin der Ort ist, an dem sich diese Veränderung am deutlichsten zeigt, beginnt die Lesung mit „Berlin soll ja so spannend sein“. Der Autor sitzt im Strandbad Mitte in der Auguststaße in der Sonne und trinkt den unvermeidlichen Latte Macchiato, und fragt sich, natürlich: Ist das jetzt schon peinlich, in der Auguststraße zu sitzen und einen Latte Macchiato zu trinken? Weil ihm das ironische Halten des Latteglases nicht gelingen will und auch der Gegenspieler, der Bekannte Harry, der demonstrativ drinnen im Schatten einen schwarzen Kaffee bestellt, längst Klischee geworden ist, kommt es zu dem koketten Reflex, der den Abend prägen soll: Die Welt aus der Perspektive des Seniorenheims aufzurollen, wo die schwindende Physis allenfalls die teilnehmende Beobachtung der Welt erlaubt, und auch die meist nur durchErzählungen anderer.

„Plötzlich beginnen wir zu ahnen, dass das Beste womöglich schon hinter uns liegt“, heißt das bei Illies, und er übernimmt die Rolle des Erzählenden, der der Generation, deren markanteste gemeinsame Erfahrung eben scheint, keine Erfahrungen mehr zu machen, die Eckpfeiler ihres Lebensgefühls repertorisiert. Telekom, das neue Bahnsystem und die Warnstreiks der Gewerkschaften, des Verteidigungsministers Wasserspiele mit der Gräfin: Das ist sie, „unsere“ Zeit.

Ja, nickt es im Publikum, so ist es gewesen, gestern noch die Carrera Bahn, heute das Handy. Und so erscheint als gemeinsamer Nenner schließlich ein schlichter Satz: „Es ist eine Kurzmitteilung eingegangen.“ KATRIN KRUSE