Der Fisch mobbt, bis er stinkt

Nach seinem fünften Platz von Paris stellt der Stabhochspringer Tim Lobinger klar, dass es sich bei ihm auf keinen Fall um einen „Hosenscheißer“ handelt, und bezichtigt lieber fröhlich Funktionäre

Mit seiner Kritik steht Lobinger überdies keineswegs alleine – sagt Lobinger

aus Paris FRANK KETTERER

Es war in der Mixedzone, als Tim Lobinger das böse H-Wort über die Lippen kroch. „Hosenscheißer“, sagte der Stabhochspringer aus Köln, laut und deutlich. Ganz von selbst. Ungefragt. Einfach so: „Ich war kein Hosenscheißer.“ Damit all die Reporter das heute in ihren Lobinger-Geschichten schreiben können – und sich im Stade de France erst gar keiner erdreistet, zu insistieren.

Prinzipiell auf die Idee, ein bisschen nachzuhaken, hätte man nämlich durchaus kommen können. So zum Beispiel: Herr Lobinger, Sie sind erneut ohne Medaille geblieben bei der WM. Ist ihnen wieder das Herz in die Hose gerutscht und ein bisschen was anderes gleich noch mit? Solch unbequemen Fragen mag der zur Zeit bunteste Vogel der deutschen Leichtathletik nämlich nicht. Und deshalb stand er jetzt, kurz nachdem er 5,80 m übersegelt und damit Fünfter der Welt geworden war, unten im Stadionbauch, die Arme in die Hüften gestemmt und sagte: „Natürlich wollte ich eine Medaille, aber ich kann auch nicht sagen: Es ging total daneben.“ Sagte außerdem: „Ich war gut, aber nicht gut genug.“ Genau in dem Moment fiel der Satz mit dem H-Wort.

Hosenscheißer – seit Lobinger den deutschen Leichtathletiknachwuchs als solche ausgemacht hat, verfolgt ihn das Wort. „Dabei haben viele gar nicht kapiert, dass ich nicht ihre Leistung gemeint habe, sondern ihre Einstellung“, fasste Lobinger den Stand der Dinge in Paris zusammen. Zu halbherzig gehe mancher der Jungen der Leichtathletik nach, zu wenige wagen ihm den Sprung ins Profitum. „Nur wenn man sich auf eine Sache ganz konzentriert“, glaubt der 30-Jährige aber, „kann man heute noch nach oben kommen.“ Dass er mit der drastischen Ausschmückung seiner Gedanken so manchem vor den Kopf gestoßen hat, ist Lobinger durchaus bewusst. „Im Nachhinein aber haben mir viele zugestimmt, wenn auch im Stillen“, sieht er sich nach vor auf der richtigen Spur.

Ob berechtigt oder nicht – all zu viele neue Freunde hat sich Lobinger in der großen DLV-Familie mit seiner Kritik offensichtlich nicht gemacht. Und hier in Paris zu spüren bekommen hat das nicht nur der Kölner selbst, sondern auch sein Trainer. Nur zwei Personen aus dem Verband hätten Michael Kühnke zu Platz fünf seines Schützlings gratuliert, zudem sei es bei der Trainersitzung am Morgen nach dem Wettkampf danach ziemlich ruhig geblieben, als der Lobinger-Trainer den Raum betreten habe; bei Kollegen sei hingegen für weitaus weniger respektable Leistungen in die Hände geklatscht worden. Lobinger fasste das beim Pressegespräch im Deutschen Haus am Tag danach so zusammen: „Es gibt Mobbing unter den Trainern.“

Dass die Dinge in der deutschen Leichtathletik derzeit nicht zum Besten bestellt sind, davon hat man sich in den Tagen von Paris ausreichend überzeugen können. Dass ein Athlet nun den Verband derart öffentlich durch die Mangel dreht, ist eine neue Entwicklungsstufe und gibt Innenansichten preis, die bisher verdeckt geblieben waren. „Für mich ist das Maß voll“, eröffnete Lobinger seine Breitseite gegen die DLV-Oberen. „Ich habe so viel einstecken müssen, jetzt gebe ich auch mal Frust ab.“

Die Munition dafür hatte er noch während des eigenen Wettkampfs sammeln können – und gegen Stabhochsprung-Bundestrainer Leszek Klima. Der, so Lobinger, sei im Wettbewerb intensivst damit beschäftigt gewesen, den Konkurrenten aus Polen zu betreuen, den Absprung seines eigentlichen Schützlings, Lobingers also, aber habe Klima nicht mitbekommen. „Das ist, als würde Rudi Völler dem gegnerischen Team Tipps geben oder den schlechtesten Schützen zum Elfmeter schicken“, findet Lobinger, „das kann nicht sein.“

Und scheint im DLV doch kein Einzelfall, weshalb Lobinger mutig die Aufdeckung der Schwachstellen in den Verbandsstrukturen fordert. „Es muss gnadenlos aufgedeckt werden, welche Personen intern gegen Athleten und Trainer arbeiten“, sagt der Kölner. Allein dass dies der Fall zu sein scheint, ist ein Skandal. Dabei ist Lobinger offensichtlich zu der Ansicht gekommen, dass auch beim DLV der Fisch vom Kopf her stinkt. „Wenn’s oben schon nicht läuft, wie soll es dann unten passen?“, packt er das in eine rethorische Frage.

Namen will der 30-Jährige zwar nicht nennen, letztendlich aber deuten seine Anspielungen in erster Linie auf eine Person hin: Frank Hensel. Mit seiner augenscheinlich wenig guten Meinung über den DLV-Generalsekretär steht Lobinger überdies keineswegs alleine – sagt Lobinger. Nur sei der Großteil seiner Kollegen zu feige, dies auch als öffentliche Kritik zu formulieren. „Wir sind ein zusammengewürfelter Haufen Individualisten, teilweise mit sehr wenig Rückgrat“, findet der Stabhochspringer. Er selbst hingegen hat mit seinem Outing eine Menge Mut bewiesen. Als Hosenscheißer jedenfalls hat sich Tim Lobinger hier in Paris nicht präsentiert.