Ein Fall von Casting-Wahn

Bevor die nächste Sau durchs mediale Dorf getrieben wird, springt das ZDF noch auf den Casting-Zug. Und will – mit dem Zweiten sucht man anders – „Die deutsche Stimme 2003“ (Sa., 18.00 Uhr) finden

„Es gab auch gut aussehende Menschen, die nichts konnten“

von MARTIN WEBER

Ralph Siegel muss weg. Das klingt nach einer harschen Breitseite gegen den verdienten Grand-Prix-Veteran, ist aber letztlich nichts anderes als eine realistische Zustandsbeschreibung des Hier und Jetzt – und eine weitere Verifikation der These, dass Witzigkeit wahrlich keine Grenzen kennt.

Das Hier und Jetzt befindet sich im Dorint Hotel zu Köln, das ZDF hat zur Pressekonferenz geladen, auf der die Mainzer ihre Version des gesamtdeutschen Casting-Wahns vorstellen. Und damit „Die deutsche Stimme 2003“ zu einer rundum leckeren Angelegenheit gerät, wird zum Kaffee Marmorkuchen gereicht. „Ralph Siegel muss weg“, sagt jener Mann, den sie, so er nicht den Faxenkasper gibt, Kai Böcking nennen, macht eine Kunstpause und fährt fort: „Er verlässt uns, damit er seinen Flieger noch kriegt, Ralph Siegel hat einen Italienurlaub gebucht.“

Die Zeit in Italien sei dem großen deutschen Schlagerkomponisten gegönnt, schließlich hat er seit Wochen schwer geschuftet. Für die stilsicheren Programm-Trendscouts vom Mainzer Lerchenberg. Immer mit der Mission, hoffnungsvolle Talente jedweden Alters zu entdecken, die in der Lage sind, unfallfrei Lieder deutscher Zunge zu Gehör zu bringen.

„Herrlich, unglaublich spannend und engagiert ist das alles gewesen“, gerät Siegel ohne Anlauf in hemmungslose Schwärmerei, sieht dabei aus wie ein nachlässig gebügeltes Oberhemd und verschwindet mit folgendem Satz endgültig gen Flughafen: „Es geht nicht darum, neue Schlagersänger zu finden, sondern Künstler.“

Keine neuen Schlagersänger, sondern Künstler – ein durchaus goldener Gedanke, der Ralph Siegel da auf dem Weg nach Bella Italia entfleucht ist. Würde man gern länger drüber nachdenken. Geht aber nicht, weil seine Jurykollegen, ein Sammelsurium von Menschen, die ihre beste Bildschirmzeit – so sie denn jemals eine hatten – längst hinter sich haben.

Jule „Ich sehe Schatten an der Wand“ Neigel ist vor Ort, trägt einen brutalstmöglichen Push-up-BH und hat, so verrät das Presseinfo, 1996 mal zwei Songs für ein Peter-Maffay-Album geschrieben.

Glaubt man der Kollegin links neben ihr, so ist sie das musikalische Kompetenzzentrum der Jury. „Die kann dir ganz genau technisch erklären, wie man Töne moduliert“, sagt Stefanie Tücking, hat dabei den ihr eigenen Charme eines Hornhauthobels und übergibt an den verbliebenen männlichen Kollegen: Oli P. – Wahnsinn! Der Oli P., der eigentlich nichts wirklich kann, das aber in aller Ausführlichkeit. Bekannt aus „GZSZ“, zu Unrecht erfolgreich als „Rapper“, verkaufte Tonträger insgesamt: unfassbare 3,6 Millionen.

„Es waren auch Leute beim Casting, die rein optisch nicht ins Raster des klassischen Popstars passen“, weiß Oli P. zu berichten, und bevor er diesen durchaus interessanten Gedanken zu Ende bringen kann, koddert Frau Tücking dazwischen. „Es gab auch gut aussehende Menschen, die nichts konnten.“ Dann herrscht für einen schönen Moment Ruhe – Neigel, Frau Tücking und Oli P. veranstalten fortan Synchronrauchen, selbst Kai Böcking hat Pause.

Im Grunde genommen prima, aber eben auch die Zeit, an die selbstverliebte Performance zu erinnern, die Böckings Casting-Moderatoren-Kollegin Andrea Kiewel beim Fototermin hingelegt hat. Stets eine Meinung abrufbereit, schnatterte der Fleisch gewordene Fernsehgarten ohne Unterlass: „Mein T-Shirt hat sieben-neunundneunzig gekostet, soll ich mal die Hände zum Himmel machen, die Karawane zieht weiter ist ja mein Lieblingslied.“

Sprechen um des bloßen Geräusches wegen, kann man auch dazu sagen, Logorrhö im terminalen Stadium ist das; einfach mal ausatmen, ohne gleich unreflektiert die Worte aus dem Mund purzeln zu lassen – bei Andrea Kiewel eine Utopie. Christoph Schlingensiefs kluge Kurzanalyse gescheiterter Casting-Kandidaten – „Die sollen doch froh sein, dass sie keine Stars werden, dann können sie Menschen bleiben“ – ist Lichtjahre von ihr entfernt. Und auch zur Jury dringt natürlich nicht vor, dass es eine Gnade sein kann, sein Menschenleben in Anonymität zu fristen und sich die Leute, mit denen man was zu tun hat, selbst auszusuchen. „Es ist unglaublich, wie viele Talente im Verborgenen schlummern“, raunzt Frau Tücking, und dann wird wieder um die Wette geraucht.

„Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum“, hat Nietzsche einmal gesagt. Von Casting war seinerzeit noch nicht die Rede. Paradiesische Zeiten. Den Titelsong zur ZDF-Talentsucherei singt übrigens Jens Bogner, ein Bursche mit einer seltsam betoniert anmutenden Schwiegersohn-kompatiblen Fönfrisur. Titel des Liedchens: „Alles, was du willst“. Eine repräsentative Spontanumfrage hinter der Tastatur ergab, dass einer will, was sicherlich viele wollen: Aufhören mit dem Casting-Wahn. Sofort!