Perspektive: Gegenmacht

Um aus der Krise zu kommen, muss die IG Metall Netzwerke jenseits der festgefahrenen Betriebsarbeit aufbauen und die innergewerkschaftliche Demokratie stärken

Die Gewerkschaft darf sich auf keinen Fall aufs reine Aushandeln betrieblicher Lösungen beschränken

Traditionalisten versus Modernisierer – es wäre schön, wenn sich die Welt der Metaller diesem Gegensatz fügen würde. Noch besser wäre, wenn er sich im Kampf zweier Protagonisten, Kollege Peters gegen Kollegen Huber, abbilden ließe. Dann könnten wir an diesem Wochenende, bei der vorgezogenen Neuwahl des IG-Metall-Vorstands, eher von einer gemeinsamen Kandidatur der beiden Rivalen als von einer Zwangsheirat sprechen. Wir könnten uns über die drohende gegenseitige Blockade auslassen, gedankenvoll mit dem Kopf wackeln und von schwerer See reden, in die das stolze Schlachtschiff IG-Metall-Vorstand geraten ist. Und damit die gesamte Gewerkschaft. Nur: Dieses ganze, von den Medien breit getretene Erklärungsschema hat wenig mit der wirklichen Problemlage in der IG Metall zu tun.

Real sind hier nur die Interessen, denen dieses Schema dient: Die Gewerkschaft soll sich in die „Politik der Reformen“ einpassen. Womit nicht gesagt ist, dass die IG Metall keiner Reform bedürfe. Das weiß sie selbst, sonst hätte sie nicht eine Zukunftsdebatte losgetreten, nicht ihre Aktivisten befragt, nicht Dutzende von Diskussionen durchgeführt, nicht Wissenschaftler dickleibige Untersuchungen schreiben lassen. So unsicher die Schlussfolgerungen aus dieser Debatte sind, so klar ist die Diagnose der Schwierigkeiten.

Da sind die Probleme, die sich objektiv aus der gesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklung ergeben. Die IG Metall war stets eine Organisation, die schwergewichtig die Interessen der männlichen, in Großbetrieben organisierten Facharbeiter vertrat. Solange diese Schicht von Arbeitern eine zentrale Rolle im Produktionsprozess spielte, war es auch möglich, auf der Grundlage von deren Interessen eine verallgemeinerbare Strategie zu fahren. Aber mit der Zentralität der Großbetriebe ist es jetzt vorbei. Die Bedeutung der industiellen Produktion schwindet zugunsten des Dienstleistungssektors. Und wo noch industriell produziert wird, wird die überkommene Betriebsorganisation in die Zange genommen: Die Produktion wird aufgesplittert, teils, etwa im IT-Bereich, sogar indiviualisiert. Andererseits werden ökonomische Entscheidungen vom Einzelbetrieb weg auf die Ebene multinationaler Konzerne verlagert.

Früher konnte die IG Metall erfolgreich mit einer „dualen“ Struktur operieren, mit den Betriebsräten als einem, der überbetrieblichen Organisation als anderem Pol. Jetzt hat sich das Schwergewicht auf die Betriebsräte verschoben, sie haben die Hauptlast in den Tageskämpfen zu tragen. Ihre Sorge gilt den „eigenen“ Betriebsangehörigen, wodurch auch von ihrer Seite der Flächentarifvertrag als kollektives Instrument des Interessenkampfes unter zusätzlichen Druck gerät. In den multinational operierenden Konzernbetriebsräten sind sie mit den Strategien der Multivorstände konfrontiert. Der Gegensatz zwischen den Betriebsratsfürsten und der IG-Metall-Führung hat mithin strukturelle Ursachen.

Als Rekrutierungsmaschine kämpft die IG Metall mit drei großen Defiziten. Sie erreicht immer weniger Jugendliche, die Zahl der beitragzahlenden Rentner hingegen wächst und wächst. Es gelingt ihr nicht, Frauen in halbwegs dem Beschäftigungsniveau angemessener Proportion zu organisieren. Und sie hat drittens Schwierigkeiten, Angestellte, vor allem solche, die autonom arbeiten, zu gewinnen. Die Entscheidungsprozesse folgen bis zur jüngsten Zukunftsdebatte dem Prinzip „top-down“ – Vorgabe und Vollzug. Parternalistische Haltungen dominieren, Neuerer haben mit stets wachem Misstrauen zu rechnen. Die von wohlmeinenden Beratern fast unisono geforderte Kultur des Dialogs, des geduldigen Aushandelns gemeinsamer Positionen angesichts divergierender Interessen der Mitgliedschaft, stößt sich an der Mauer einer überkommenen politischen Kultur. Das ist die subjektive Seite des objektiven Problems.

Schwierig nur, dass die vorgeschlagenen Heilmittel sich tendenziell gegenseitig ausschließen. Ein Arbeitspapier der Otto-Brenner-Stiftung aus dem Jahr 2001 spricht von „Dilemmata“. Will man sich organisatorisch öffnen, die Arbeit in Initiativen und Bürgerbewegungen mittragen, in die Stadtteill- und Gruppenarbeit gehen, die Frauen- und Jugendarbeit intensivieren, so besteht die Gefahr, dass das Standbein in den Industriebetrieben weggeschlagen wird. Was an Öffnung gewonnen würde, ginge an Schlagkraft verloren.

Will man auf die Angestellten zugehen, indem man den Charakter der Gewerkschaft als Serviceunternehmen herausstreicht, so gerät leicht das Selbstverständnis der IG Metall als gesellschaftlich wirksame politisch-moralische Instanz unter die Räder, und das individuelle Kosten-Nutzen-Kalkül untergräbt die solidarische Aktion.

Diese wie andere Widersprüche lassen sich sicher nicht mit einem Patentrezept bewältigen. Sie können nur schrittweise aufgelöst werden, allerdings unter einer Voraussetzung: Die These vom „Rückzug aufs Kerngeschäft“, also die Behauptung, die IG Metall habe sich aufs Aushandeln betrieblicher Lösungen für ihre Kernklientel zu beschränken, muss von der Mitgliedschaft zurückgewiesen werden. Ein solcher Rückzug vom politischen Anspruch wie von dem Versuch, sich organisatorisch mit Kräften der „Civil Society“ wie etwa Attac zu vernetzen, würde tatsächlich in die gewerkschaftliche Sackgasse führen. Bedeutete er doch, dass der Kampf gegen die generelle Verschlechterung der Lebensbedingungen von lohnabhängig Beschäftigten durch politische Maßnahmen nicht mehr als gesellschaftliche Aufgabe begriffen würde. Gar nicht davon zu reden, in welchem Umfang die für demokratische Rechte eintretenden Kräfte geschwächt würden. Was wiederum auf Rechtspositionen der Belegschaften in den Betrieben zurückschlagen würde.

Früher operierte der Betriebsrat als einer, die überbetriebliche Organisation als anderer Pol der IGM

Man könnte auch mit einem überkommenen, aber deshalb nicht falschen Begriff von der Notwendigkeit gewerkschaftlicher Gegenmacht in der Gesellschaft sprechen. Diese Gegenmacht wird sich aber nur aufbauen, wird nur an Attraktivität für gewerkschaftsferne, potenzielle Mitglieder gewinnen, wenn mit dem demokratischen Zentralismus in der Organisation Schluss gemacht wird. Hier gilt es, jenseits der festgefahrenen Gruppenarbeit Netzwerke aufzubauen, informelle Zusammenschlüsse der gegenseitigen Beratung und des gemeinsamen Lernens zu stärken sowie den einzelnen Mitgliedern Beteiligungschancen zu eröffnen. Auch wäre es nötig, einen Teil der Entscheidungskompetenz vom Vorstand respektive vom Bezirk auf die Ortsverwaltungen zu verlagern, wo betriebliche und politisch-gesellschaftliche Aktivitäten besser koordiniert werden können und die Basis näher ist.

Es geht nicht um den abstrakten Gegensatz von Haupt- und Ehrenamtlichen, es geht um die Stärkung der innergewerkschaftlichen Demokratie. Demokratie und Effektivität sind keine Gegensätze. Ob Peters oder Huber, ob „modern“ oder „traditionell“, sie werden an dem Postulat der Gegenmacht zu messen sein.

CHRISTIAN SEMLER