Wenn die Staaten verschwinden

Gut zwölf Jahre ist es mittlerweile her, dass in zahlreichen Beiträgen über die finale Krise der Entwicklungspolitik räsoniert wurde. Das lag im Trend. Nicht nur das Ende der Dritten Welt wurde konstatiert, sondern auch das Ende der Moderne, das Ende der Souveränität, des Nationalstaats, der Nationalökonomie, das Ende der Arbeit, der Geografie, einer Weltordnung und der Geschichte, eingekleidet von diversen De-, Anti-, Post- und Neodiskursen.

Damals war mit dem Ende der „Dritten Welt“ das eines Konstruktes gemeint – der Zerfall der großen Erzählung von der „Dritten Welt“. Diese „Dritte Welt“ war eine vorgestellte Gemeinschaft, die seit den 50er-Jahren als Resultat politischer Diskurse zwischen den Intellektuellen und Eliten des Nordens und des Südens entstanden war. Wirkliche Vergemeinschaftungsprozesse, ethnien-, staaten-, nationen- oder gar kulturenübergreifend, gab es hingegen nicht.

1990 verlor die begriffliche Dreiteilung der Welt vollends ihren Sinn. Mit der Blockkonfrontation hatte sich auch die Blockfreienbewegung überlebt. Damit war auch die ursprüngliche emanzipatorische Konnotation des Begriffs „Dritte Welt“ im Sinne des „dritten Standes“ hinfällig geworden, die 1955 Pate gestanden hatte, als die Blockfreienbewegung ins Leben gerufen wurde. Mit dem Scheitern des Sozialismus sowjetischer Provenienz war auch die Bedeutung im Sinne von „dritter Weg“ zwischen Sozialismus und Kapitalismus verloren.

Die „Dritte Welt“ hat es als kollektiv handelnden Akteur in der internationalen Politik ohnehin nur selten, und wenn, dann eher auf der Ebene von Deklarationen gegeben. Die Vielfalt und Widersprüchlichkeit der Interessen war in der „Dritten Welt“ eher größer als innerhalb der „Ersten Welt“. Die Konflikte zwischen Ländern der „Dritten Welt“ (Indien – Pakistan, Irak – Iran, China – Vietnam, Äthiopien – Eritrea, Kongo und seinen Nachbarn etc.) sind besonders ausgeprägt, wie die Vielzahl inner- und zwischenstaatlicher Kriege nach Ende des Ost-West-Konflikts zeigt. Und schließlich ist auch die hiesige Dritte-Welt-Bewegung trotz Attac nur noch ein Schatten früherer Tage. Die zahllosen Solidaritätskomitees existieren nicht mehr, die Dritte-Welt-Zeitschriften verbuchen schrumpfende Auflagen, einschlägige Veranstaltungen sind nur noch schlecht besucht.

So mag der Begriff „Dritte Welt“ mangels einer überzeugenden Alternative weiterhin ein zähes Leben führen – doch die reale Veränderung ist, nicht zuletzt für die entwicklungspolitische Praxis, dramatisch. Die Entwicklungspolitik ist auf dem besten Wege, ihren Gegenstand zu verlieren – einzelne Teile der „Dritten Welt“ sind jetzt wirklich am Ende. Eine kleine Gruppe von Ländern hat mittlerweile den Anschluss an die OECD-Welt gefunden – vor allem aber sind etliche Länder in derart katastrophaler Lage, dass ihre staatliche Existenz in Auflösung begriffen ist. Letztere finden sich überwiegend in Afrika südlich der Sahara – einst Wiege der Menschheit und jetzt Armenhaus mit düsteren bis apokalyptischen Aussichten.

Die neuen Begriffe lauten: „Failed States“, Quasistaaten, neue Terra incognita, die neuen Barbaren, the frontiers of anarchy, das neue Mittelalter, Dschihad versus McWorld. Wir müssen ganz neu darüber nachdenken, was in den einzelnen Teilen dieser ehemals „Dritten Welt“ tatsächlich geschieht.

Gehen wir einmal davon aus, dass das, was mit Hilfe von Statistik, volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen oder Zahlungsbilanzen, aber auch der nationalen Bevölkerungs-, Sozial-, Gesundheits- und Bildungsstatistik abgebildet wird, auch tatsächlich existiert – nämlich im territorialen Sinne definierte Nationalstaaten mit einer eindeutigen Zuordnung und Abgrenzung von politischen und wirtschaftlichen Aktivitäten, Bevölkerung, Ressourcen etc.

Nehmen wir als Beispiel die 97er-Ausgabe des jährlich von der Weltbank herausgegebenen Weltentwicklungsberichts, der zu den zuverlässigsten internationalen Statistiken überhaupt gehört. Was auffällt: 20 afrikanische Länder südlich der Sahara, aber auch Afghanistan, Bosnien, Irak, Iran, Kuba oder Nordkorea fehlen ganz in der Statistik. Andere wie Jemen, Kambodscha, Haiti, Laos, Libanon weisen mehr Leerstellen („Angaben nicht verfügbar“) als Ziffern auf. Bei den Hinweisen, wie das Datenwerk zustande gekommen ist, wird berichtet, dass die letzte verfügbare Volkszählung oder die letzte volkswirtschaftliche Gesamtrechnung 10, 20 oder gar 30 Jahre zurückliegt. Besonders gehäuft sind diese Phänomene in Afrika südlich der Sahara anzutreffen.

Die Statistik der Direktinvestitionen dagegen zeigt, dass in den letzten Jahren in Afrika südlich der Sahara mehr Investitionen liquidiert als getätigt wurden, also ein Nettoabfluss von Investitionen stattgefunden hat – mit einer einzigen Ausnahme: Beträchtliche Investitionen in Milliardenhöhe fließen nach Liberia in den Sektor „Transportunternehmen“. Dass es sich dabei um ausgeflaggte Tanker und Containerschiffe handelt, die lediglich in einem New Yorker Büro liberianischer Behörden registriert werden, verschweigt die Statistik.

Neben die Dekapitalisierung eines ganzen Kontinents, dessen Infrastruktur verfällt, dessen Eisenbahnen, Straßen und Hafenanlagen verrotten, tritt dessen weltwirtschaftliche Marginalisierung. Mittlerweile beträgt der afrikanische Anteil am Welthandel weniger als ein Prozent mit weiter abnehmender Tendenz. Das kombinierte statistisch ausgewiesene Sozialprodukt aller Länder südlich der Sahara ist deutlich niedriger als das von Südkorea. Afrika ist weder als Markt noch als Lieferant von Interesse.

Erschwerend kommt hinzu: Mitten in Afrika gibt es eine große Kriegszone von Angola über die beiden Kongo, Ruanda, Burundi bis in den südlichen Sudan und weiter nach Äthiopien und Eritea, wobei die klassische Unterscheidung zwischen Krieg und Bürgerkrieg nicht mehr greift. Hinzu kommt eine zweite, kleinere Kriegszone in Westafrika (Sierra Leone, Liberia und deren Nachbarn). Selbst die Elfenbeinküste, noch in den 80er-Jahren als afrikanisches Schwellenland gehandelt, hat alle Chancen, dieser zweiten Kriegszone zugeschlagen zu werden. Und die weißen Flecken auf der Landkarte nehmen zu, die neue Terra incognita wächst.

Mit anderen Worten: Nicht nur die Dritte Welt“ war eine vorgestellte Gemeinschaft, sogar viele ihrer Staaten sind zu vorgestellten Gemeinschaften geworden. Sie existieren nur noch in der Hauptstadt, auf dem Papier, in der Statistik, manchmal noch nicht einmal mehr dort. Geblieben ist oft nur die medial aufbereitete Symbolik des Staates: die Flaggen und Hymnen, Orden und Uniformen, die schwarzen Mercedes-Limousinen und BMW-Motorrad-Eskorten, die Sportstadien, Flughafenempfangsgebäude und Präsidentenpaläste inklusive der beides verbindenden Prachtstraße, auf der die jubelnden Massen dem ausländischen Staatsgast zuwinken, und im Hintergrund längs dieser Bühne die Kulisse aus Prestigebauten der Entwicklung und Projekten der Industrialisierung. Dass diese vielfach nur Fassaden sind, nie richtig produziert haben oder längst zweckentfremdet wurden, aber dennoch vielen „Direktoren“ hohe Einkommen verschaffen, erfährt der durchreisende Entwicklungshilfeminister während der Stippvisite nur selten.

Woran liegt es, dass trotz dreier Entwicklungsdekaden, erheblichen personellen und finanziellen Aufwands und emanzipatorischer Absichten das Projekt „Entwicklung“ in diesem Teil der Welt so brutal gescheitert ist und heute nur noch von der Entwicklung des Zusammenbruchs die Rede sein kann? Eine der vielen Ursachen ist womöglich die Entwicklungszusammenarbeit (EZ) selbst, weil sie den latent vorhandenen Hang zur Rentenorientierung der Herrschenden, die behelfsweise als Staatsklassen bezeichnet werden, verstärkt und damit die Bildung einer unternehmerisch orientierten Mittelschicht blockiert hat. Wenn ein wesentlicher Teil des Staatshaushalts, in etlichen afrikanischen Ländern bis zu 50 Prozent und mehr, aus der Entwicklungshilfe stammt, kann es durchaus rational sein, nicht unternehmerische Aktivitäten zu fördern, um die Einkommen zu steigern, sondern Strategien zu entwickeln, um die Renteneinkommen aus der EZ zu maximieren.

Ein beliebtes Mittel ist dabei die Steigerung der „Transaktionskosten“ durch die Errichtung von immer neuen bürokratischen Hürden bei Projekten, die durch entsprechende Schmiergelder oder sonstige Zweckentfremdung überwunden werden müssen. Eine andere Strategie ist das Ausschlachten von Projekten, die durch nachgeschobene Ausrüstungen immer wieder funktionstüchtig gemacht werden müssen. Hier treffen sich die Interessen von lokalen Partnern und den Institutionen der EZ, gleichgültig ob staatliche oder Nichtregierungsorganisationen. Das Eigeninteresse der Apparate verlangt die Bereitstellung der Mittel seitens der Geber, den Mitteldurchfluss durch die Institutionen der EZ und den Mittelabfluss, der wiederum aufnahmefähige Partner vor Ort voraussetzt.

Verschärfend für den Zusammenbruch vieler Staaten wirkt der Umstand, dass das Scheitern des Entwicklungsprojekts destabilisierend auf das soziale Gefüge der postkolonialen Staaten wirkt. Insbesondere unter den perspektivlosen Jugendlichen in den großen Städten wächst die Bereitschaft zur Gewalt. Dieses Gewaltpotenzial vermögen rivalisierende Cliquen der Staatsklasse zu nutzen, um die Reihen ihrer Soldateska aufzufüllen und sich anschließend als Warlords die Rente auf direkte gewaltsame Weise ohne den Umweg über die EZ anzueignen. Dazu sind langfristig angelegte Projekte eher ungeeignet. Geeigneter sind vielmehr die Mittel aus der Katastrophenhilfe, die sich direkt am Hafenkai oder Flughafen mit der Kalaschnikow abzweigen lassen. Auch das Elend, so weit es nur im Westen fernsehgerecht aufbereitet ist, kann so zu einer Quelle von Renteneinkommen werden. Es ist der Nährboden, auf dem sich regelrechte „Gewaltmärkte“ konstituieren, die einer zwar brutalen, aber durchaus rationalen Logik folgen.

Noch radikaler formuliert, lässt sich argumentieren, dass wir es in etlichen postkolonialen Gesellschaften gar nicht mit dem Zerfall von Staaten zu tun haben. Dies setzt nämlich voraus, dass es zuvor funktionierende Staaten gegeben hat, die in der Lage waren, Rechtssicherheit, Schutz des Eigentums etc. bereitzustellen. Was jetzt zerfällt, ist nicht der Staat, sondern dessen Karikatur.

All das hat Konsequenzen für die Entwicklungszusammenarbeit. Zuerst sollten die ost- und südostasiatischen Schwellenländer ebenso wie die Rentierstaaten am Persischen Golf ganz herausgenommen werden, da die Entwicklungszusammenarbeit für sie kaum mehr nötig ist. Konzentriert werden sollten alle Ressourcen auf die Katastrophenregionen der Welt, insbesondere in Afrika. Hierbei sollte es aber eine Verlagerung der Aktivitäten weg von den klassischen, eher auf langfristige wirtschaftliche Förderung angelegten Projekten geben, die ein stabiles politisches Umfeld, Rechtssicherheit, funktionierende Märkte etc. voraussetzen – Bedingungen, die vielfach nicht mehr gegeben sind. An ihre Stelle sollte kurzfristig die humanitäre oder Katastrophenhilfe treten, wobei sich aber auch der Begriff „Katastrophe“ wandelt. Es geht nicht mehr nur um Dürre, Überschwemmungen, Seuchen, Erdbeben oder Vulkanausbrüche – die eigentliche Katastrophe ist der Verfall staatlicher Ordnung schlechthin. Deshalb muss es langfristig darum gehen, die verfallenen postkolonialen Gesellschaften zu befrieden und politisch zu stabilisieren. Insofern muss die EZ sehr viel politischer werden.

Der Übergang von der EZ zur zivilen Konfliktbearbeitung ist genauso fließend geworden wie der von der zivilen zur militärischen Friedensstiftung. Die scharfe Trennung zwischen den staatlichen und nichtstaatlichen Institutionen der EZ, zwischen Peace-Keeping, Peace-Making und Peace-Enforcement, aber leider auch neohegemonialer Militärintervention wie im Irak verschwimmt.

Damit weichen auch die Grenzen der Zuständigkeitsbereiche zwischen Auswärtigem Amt, BMZ, Verteidigungsministerium und Innenministerium auf, wird die Bundeswehr zur Konkurrenz der humanitären Hilfsorganisationen. Wenn das staatliche Gewaltmonopol aufgehoben ist, bedarf auch der Entwicklungshelfer des militärischen Schutzes vor der Soldateska der Warlords, wird der KFOR-Soldat auch als Sanitäter, Fernmeldetechniker oder Pionier benötigt, kann der eigentlich auf strikte Neutralität angewiesene Mediator sich der Parteinahme im Sinne der Menschenrechte kaum noch entziehen.

Die Lehren für die Entwicklungspolitik lassen sich in einem 7-Punkte-Szenario der humanitären Intervention zusammenfassen:

1. Aufbau eines Frühwarnsystems, das auf mögliche politische Krisen hinweist.

2. Falls entsprechende Signale empfangen werden, können im Vorfeld Maßnahmen zur Konfliktprävention durch Entsendung von Mediatoren ergriffen werden.

3. Wenn diese nicht ausreichen oder zu spät eingesetzt haben, muss das gesamte Register des diplomatischen Drucks, der wirtschaftlichen Sanktionen bis zur Androhung von militärischer Intervention zum Einsatz kommen.

4. Fruchten die zivilen Interventionsmaßnahmen nicht, bleibt als Ultima Ratio die militärische Intervention, die aber nur in extremen humanitären Not- lagen legitimierbar ist und durch die Vereinten Nationen zu mandatieren ist.

5. Flankiert von militärischer Absicherung, kann kurzfristig die humanitäre Hilfe im engeren Sinne geleistet werden.

6. Mittelfristig muss eine politische Stabilisierung durch Unterstützung des Staatsaufbaus von unten erfolgen. Die Interventionstruppen wandeln sich von Peace-Enforcement- zu Peace-Keeping-Kräften.

7. Erst wenn halbwegs funktionierende staatliche Strukturen erkennbar sind, kann langfristig der wirtschaftliche und soziale Wiederaufbau in Angriff genommen werden, erst dann ist auch wieder Spielraum für Projekte der Entwicklungszusammenarbeit.

Im Falle der „Failed States“ kann die Einrichtung von „liberalen Protektoraten“ erforderlich sein, um treuhänderisch das Gewaltmonopol wiederherzustellen und den staatlichen Aufbau wieder in Gang zu setzen. Die globalen Trends in der internationalen Politik weisen in diese Richtung. Insbesondere Afrika südlich der Sahara sieht sich dieser neuen Form des, wenn man so will, Kolonialismus gegenüber. Umso wichtiger ist die klare und strikte Abgrenzung gegenüber dem alten Kolonialismus aus der Zeit des Hochimperialismus vor dem Ersten Weltkrieg: Interventionen dürfen ausschließlich humanitär begründet sein und nur in extremen Fällen durchgeführt werden. Nicht jede beliebige Notlage rechtfertigt die Verletzung von Souveränität. Jede Intervention muss durch die UN mandatiert sein und durch multinationale Kontingente durchgeführt werden, um neoimperialen Tendenzen vorzubeugen. Schließlich bedarf es eines entsprechenden Interventionsregimes der UN, in dem die Prinzipien, Normen, Regeln und Entscheidungsverfahren humanitärer Intervention festgelegt sind, um unilateraler Willkür vorzubeugen.