Acht Minuten Hoffnung

Ludwigsfelde schießt ein Tor gegen Bremen, verliert aber 1:9. Doch das kümmerte niemanden

Jede gelungene Grätsche wird gefeiert, als wäre ein Tor für den LFC gefallen

von ANDREAS RÜTTENAUER

Eigentlich hätte er drei Hände gebraucht. Eine zum Händeschütteln. Denn beinahe jeder Besucher, der an der Ecke vorbeikam, in der sich die Angehörigen des Fanclubs „Harter Kern“ platziert hatten, kannte ihn. Mit der anderen versuchte er die Anhänger auf die Choreografie bei Einmarsch der Mannschaften einzuschwören, und in der dritten da hätte er wohl gerne seinen Bierbecher gehalten, zu dem er sich immer wieder hinunterbücken musste. Der Einpeitscher des Fanclubs wollte nichts dem Zufall überlassen. Er wollte seine Freunde dirigieren, er versuchte die etwa 30 rot-weiß bemützten Anhänger des Ludwigsfelder FC heiß zu machen. Das war nicht allzu schwer an diesem Nachmittag. Vor dem großen Spiel gegen den Tabellenführer der Bundesliga waren die eingefleischten LFC-Fans beinahe so aufgeregt wie die Spieler des von ihnen verehrten Clubs. „Du musst natürlich die rote Rolle halten, das ist doch nicht so schwer zu kapieren!“ Der Angesprochene reagierte. Am Ende stand das Bild und die dreißig Fans verschwanden beim Einlaufen ihrer Helden unter den roten und weißen Kreppbahnen.

Ludwigsfelde ist eine selbstbewusste Gemeinde im Speckgürtel Berlins. „Willkommen in der Automobilbauerstadt“ heißt es auf den Begrüßungstafeln am Ortseingang. Den Untergang der DDR hat Ludwigsfelde besser wegstecken können als so manch andere Kommune. Die legendären IFA Automobilwerke, in denen seinerzeit etwa 600.000 Lkws vom Band liefen, gingen über in die Daimler-Benz Ludwigsfelde GmbH, in der von immer noch mehr als 1.200 Beschäftigten Kleintransporter gefertigt werden. Ein neues Rathausgebäude, das zwar nicht schön, aber unheimlich modern aussieht, zeugt vom Selbstbewusstsein des Ortes mit seinen 23.000 Einwohnern.

Selbstbewusst ist auch der Fußballclub des Ortes. Der Ludwigsfelder FC spielt in der Verbandsliga, der höchsten Spielklasse Brandenburgs. Doch das soll sich schon bald ändern. Erklärtes Saisonziel ist der Aufstieg in die Oberliga. Den größten Erfolg der Vereinsgeschichte feierte die Mannschaft in der vergangenen Saison mit den Gewinn der Landespokals. Durch den Gewinn der Trophäe, der unter anderem durch einen Sieg über den damaligen Regionalligisten Babelsberg sowie den Finaltriumph gegen den Oberligisten Brandenburger SC Süd zustande kam, wurde das Fest, das am Wochenende auf dem Rasen des kleinen Waldstadions gefeiert wurde, erst möglich.

Mehr als 4.000 Menschen waren gekommen, um den kleinen LFC gegen den großen SV Werder Bremen spielen zu sehen. Die Spieler des Brandenburger Verbandsligisten machten sich schon auf dem Rasen warm, da traf erst der Bus mit den Stars aus dem Norden ein. Die jungen Lizenzspieler schlenderten noch in den Ausgehanzügen des Vereins gekleidet Richtung Stadion. Ein Betreuer des gastgebenden Vereins las aus den Gesichtern der Profis Arroganz und sprach von einer realistischen Chance. Auch die angereisten Sportfotografen redeten von der großen Sensation: „Am Ende schießt einer von denen das entscheidende Tor, und dann ist wieder die Hölle los, weil du kein Bild von dem hast.“

Anpfiff. Jede Ballberührung der Ludwigsfelder wird bejubelt, eine gelungene Grätsche, ein vom Torwart abgefangener Ball gefeiert, als wäre ein Tor für den LFC gefallen. Acht Minuten lang. Denn schon der vierte Angriff der Bremer wurde von Tim Borowski mit dem 1:0 für die Gäste abgeschlossen. „Hätten wir das erste Tor der Bremer nicht mit einem Fehlpass selbst eingeleitet, hätte es vielleicht ganz anders ausgesehen.“ LFC-Trainer Volker Löbenberg hatte auf eine Mauertaktik gesetzt, die allzu bald nicht mehr aufgegangen war.

Nach dem Abpfiff sprach er immer noch von dem Traum, „der wohl bei jedem von uns im Hinterkopf war“. Doch dann musste er grinsen und sagte: „Wir konnten froh sein, dass es zur Pause nur 0:3 stand.“ „Na ja, 0:3, ich sag mal, da ist noch nicht alles verloren.“ Der „Harte Kern“ gab seine Mannschaft auch bei diesem Halbzeitstand noch nicht verloren. Als es nach einer halben Stunde der zweiten Halbzeit 0:7 stand, hatten auch die eingefleischtesten LFCer den Klassenunterschied anerkannt.

Dann kam die 80. Spielminute, und Andreas Fricke zauberte Partystimmung auf die Ränge des Waldstadions. Nach seinem Tor zum 1:7 rannte er seinem Trainer in die Arme und ließ sich von den Fans feiern. Ludwigsfelde hatte seinen Pokalhelden. Werder schoss noch zwei weitere Tore. Doch das interessierte nun wirklich niemanden mehr.