Burg, Berg, Bier

Raus aus dem Zug, rein nach Würzburg. Eine literarhistorische Trinkexpedition

Während der Anfahrt auf Würzburg erinnerte er sich an die Hymne auf die Bierstadt

„No jokes with names“, lautet ein Grundgesetz des Journalismus, in freundschaftlichen Beziehungen gilt es offenbar nicht. Mein Freund Weckerling musste sich ein ums andere Mal den Kalauer gefallen lassen: „Johann Georg Weckerling, der allen auf den Wecker ging“. Ein billiger Scherz, aber er hatte seine Berechtigung bis zu jenem Tag, als Weckerling von seinem Ausflug nach Würzburg berichtete. Seitdem versucht niemand mehr, Weckerlings Erzähldrang zu bremsen. Man könnte was verpassen.

Unvorsichtigerweise hatte Weckerling in der von ihm bevorzugten Lottoannahmestelle gedankenlos zum falschen Schein gegriffen und nun bei der Bingo-Sonderverlosung den dritten oder dreizehnten Preis gewonnen, ein Wochenende in München für eine Person. Zwar hatte er gar keine und recht eigentlich nie Lust, irgendwohin zu fahren, dennoch machte er sich seufzend auf die Miniaturreise. In München angekommen, ging er die paar Schritte vom Bahnhof zum „Augustiner-Keller“, fand im Garten einen schattigen Platz unter Kastanien und trank dort etliche halbe Liter Bier, bis der Ausschank die Läden herabrattern ließ. Am nächsten Morgen setzte sich Weckerling in den ersten erreichbaren Zug zurück nach Hause.

Kurz hinter Nürnberg dann habe er, Weckerling, sich an Thomas Kapielskis gesammelte Gottesbeweise erinnert, vor allem an jene Passage in dem Buch „Davor kommt noch“, in der Kapielski eine Stippvisite in Würzburg auf dem Rückweg von München nach Berlin schildert und nachdrücklich den Zwischenstopp empfiehlt, weil es in Würzburg winzige Brauereien in Bahnhofsnähe gebe, wo man das köstlichste Bier trinken könne, ja, Kapielskis Hymne auf das Würzburger Brauwesen habe in ihm, Weckerling, „damals schon“ die Absicht geweckt, den Vorschlag irgendwann einmal in die Tat umzusetzen.

Während der Anfahrt auf Würzburg habe er in seine Tasche gegriffen und sei dann kurzerhand ausgestiegen. Die Namen der in dem Kapielski-Buch genannten Wirtshäuser habe er natürlich nicht mehr gewusst, aber in einer ihn selbst überraschenden Bedenkenlosigkeit, ja Unverfrorenheit habe er optimistisch dem Ausflug entgegengefiebert und sei gespannt gewesen, ob er die Kneipen würde ausfindig machen können, fuhr Weckerling fort.

Es war einer der heißesten Tage des Jahres, das Flanellhemd klebte an seinem Körper, als sich Weckerling auf die Suche machte. Den undeutlichen Lektüreresten zufolge musste es sich um unscheinbare Kleinstbrauereien handeln, sodass Weckerling ein ausgedehnter Weinberg, der sich hinter dem Bahnhofsgebäude sanft erhob, genauso wenig irritierte wie die Vielzahl der Weinstuben. Die üblichen, durch Fernsehwerbung bekannten Biermarken, die die meisten Wirtshausschilder schmückten, ignorierte er selbstverständlich ebenfalls, Örtlichkeiten wie den „Paperla Pub“ sowieso. Er fahndete nach dem Obskuren, Abseitigen, Urigen, hätte er beinahe gedacht, wenn dieses Wort nicht auf der Liste der verbotenen Kitschwörter stünde.

Weckerling hatte die Hoffnung schon aufgegeben, die Kneipen ausfindig zu machen, als er auf dem Rückweg zum Bahnhof eine entdeckte, die auf die Kapielski’sche Beschreibung zutreffen mochte. Weckerling setzte sich an einen der Tische draußen. Das Schwarzbier, das heute im Angebot war, schmeckte. Sooo doll nun auch wieder nicht, fand er, aber darauf kam es jetzt nicht an. Er war am Loco citato erfolgreich gewesen, und das allein zählte. Seine Zufriedenheit mit sich selbst, mit der Welt dehnte sich weiter aus, als er einen Passanten mit dunkler Haarmähne erblickte, der die Woolworth-Filiale nebenan zu betreten sich anschickte. Statur und Physiognomie des Mannes erinnerten Weckerling an den Arno-Schmidt-Spezi und Karl-May-Herausgeber Hans Wollschäger, der, da war sich Weckerling auf einmal sehr sicher, der ja in Würzburg residierte. Es war nicht zu fassen und doch Gewissheit: Weckerling hatte die Unterbrechung der Rückreise zu einer literarhistorischen Expedition in geballter Dimension genutzt. Er lachte beinahe gackernd, so wohl war ihm, dass er vor Stolz ein weiteres Schwarzbier bestellte. Wie viele dem noch folgten, weiß ich nicht, aber irgendwie gelangte Weckerling schließlich wieder zum Bahnhof und erwischte den letzten ICE, der ihn heile, wenn auch etwas derangiert in der Heimatstadt ablieferte.

So weit hatten wir stumm und fasziniert Weckerlings Reiseerzählung gelauscht. Wir – das waren der Kollege Wipfel und ich. Jetzt aber brach es aus Wipfel heraus. Geradezu tobend vor Freude schlug er mit beiden Händen auf den Wirtshaustisch und skandierte haltlos nur das eine: „Bamberg!“ Immer wieder und bald außer Atem: „Bamberg!“ Verdutzt, sogar perplex schaute Weckerling sein Gegenüber an, dann in die Runde, dann wieder auf Wipfel, der ihm endlich den Gefallen tat: „Du wolltest nicht nach Würzburg, sondern nach Bamberg, mein Lieber. Würzburg ist Weinfranken, da gibt es überhaupt kein Bier, das erwähnenswert wäre. Bamberg dagegen ist berühmt für seine jahrhundertealte Braukunst und die Vielfalt an Privatbrauereien. Der Zug von München nach Berlin fährt über Bamberg, der nach Hamburg über Würzburg.“

Das leuchtete ein. Ich erklärte mich bereit, den zerschunden wirkenden Weckerling nach Hause zu begleiten. Er brachte es nicht über sich, in den „Gottesbeweisen“ nachzuschlagen, und es war ja auch überflüssig, um im Bild zu bleiben, dennoch tat ich es: „Denn wenn es einmal wirklich gutes Bier und alles rundum sowohl biertechnisch als auch biergemütlich und bierbestmöglich sein soll, steigt man in Bamberg aus …“

Weckerling übrigens musste sich nie wieder anhören, er gehe irgendjemandem auf den Wecker, nein, von nun an musste er sich zur Begrüßung die Frage gefallen lassen, wann er denn wieder zum Biertrinken nach Würzburg fahren würde.

DIETRICH ZUR NEDDEN