la vie parisienne
: FRANK KETTERER über die Gefahren des Jubels

Fliegende Franzosen

Wie so die Stimmung war in den ganzen Tagen und Nächten im Stade de France? Nun ja, wie der Franzose halt so ist: leicht unterkühlt, vornehm zurückhaltend, ist ja auch nur Leichtathletik, und wer wird deswegen schon die vornehme Façon verlieren? Wobei: konnte schon auch vorkommen. Dann nämlich, wenn Landsfemme oder Landshomme einen Auftritt hatte. Dann gab es kein Halten mehr und der große Kessel brodelte wie einstmals der Zaubertrank im Kessel, mit dem Miraculix die ganzen Gallier unbesiegbar gemacht hat. Und dabei war ganz egal, um welche Disziplin es sich handelte oder ob es um Medaillen ging oder nur um einen unbedeutenden Vorlauf – die Franzosen wollten ihre sportelnden Landsleute siegen sehen, unbedingt.

Was irgendwie auch wieder verständlich ist, schließlich sind auch der Grande Nation in letzter Zeit die sportlichen Helden etwas rar geworden: Sieglos ausgeschieden Zidane et copains auf den Fußballfeldern Asiens, im Handball auch schon länger nicht mehr wirklich spitze, selbst die Tour hat wieder dieser verrückte Amerikaner gewonnen – und mit dem großen Rest hat Frankreich ohnehin noch nie etwas am chapeau gehabt.

Da muss man schon mal zusammenstehen im Stadion, tous ensembles, und ein bisschen Rabatz machen und Stimmung. Und es war ja auch nicht vergeblich: Die Sprintstaffel am vorletzten Tag musste nicht wirklich zu Gold laufen, sondern wurde auf einer Woge der Begeisterung dorthin getragen; und auch Eunice Barber, schon Zweite im Siebenkampf, segelte auf dieser Wolke der Ekstase zum Sieg, und alles wurde doch noch gut im Stade de France .

Wobei: Manchmal war das ganze Ballyhoo von den Rängen für die Helden Frankreichs gar nicht so schön und angenehm, sondern eher hemmend. Vor allem Marie Poissonnier fällt einem da ein. Marie ist eine junge Mademoiselle von 24 Jahren, die etwas zurückhaltend wirkte, schüchtern beinahe. Auf jeden Fall ist Fräulein Poissonnier mit all dem Jubel, mit dem das Publikum sie überschüttet hatte, wenn sie einen Stab zur Hand nahm, um damit über eine ziemlich hoch liegende Latte zu springen, nicht zurecht gekommen, nie. Man konnte richtig spüren, wie sie erdrückt wurde von dem ganzen Getöse um sie herum, von diesen unerfüllbaren Erwartungen, die die Grande Nation auch in sie gesetzt hatte. Dreimal lief sie an, dreimal schaffte sie es nicht drüber. Arme Mademoiselle Possonnier, tout war perdu. Im eigenen Land. Im eigenen Stadion. Von den eigenen Landsleuten zu Boden gejubelt – und dort zerschollen. Pauvre Marie, zur Entschädigung sei Ihnen diese letzte Kolumne aus Paris gewidmet.