Sozialhilfe statt Bus-Tickets zum Nulltarif

Das russische Parlament stimmt heute über eine umfassende Reform des Sozialsystems ab. Statt Sachleistungen sollen Bedürftige monatliche Geldzuwendungen erhalten. Viele Menschen befürchten eine weitere Verschlechterung ihrer Lage

AUS MOSKAU KLAUS-HELGE DONATH

Dergleichen hatte Moskau noch nicht gesehen. In hohem Bogen flog Kremlchef Wladimir Putin aus dem Büro des Gesundheitsministers und ging klirrend zu Boden. Zwar war es nur ein Foto unter Glas, das auf dem Trottoir zerschellte. Aber auch das glänzende Image des russischen Präsidenten hat erste Kratzer abbekommen. Putins Popularitätswert sank im Sommer erstmals unter die 50-Prozent-Marke.

Der Grund: Mit einem umfassenden Reformpaket will der Kreml das soziale Fürsorgesystem der veränderten Realität anpassen. Am Montag hatten Mitglieder der radikalen nationalbolschewistischen Partei die Räume des Gesundheitsministers gestürmt und sich an der Ikone vergriffen. Sie sind nur eine kleine Minderheit. In ihrem Protest gegen den befürchteten Sozialabbau wissen sie sich aber mit 55 Prozent der Bürger einig. Nur ein Drittel der Russen befürwortet das Reformvorhaben.

Zur Disposition stehen Vergünstigungen für sozial schwächere Bevölkerungsschichten. Diese Vergünstigungen stammen zum Teil noch aus kommunistischen Zeiten. Der um sein wirtschaftsliberales Reformimage bedachte Kreml verkauft die Reform denn auch als einen Bruch mit dem egalitären sozialistischen Versorgungsprinzip. Kostenlose Sachleistungen des Staates sollen ab 1. Januar 2005 auf Barzuschüsse aus der Staatskasse umgestellt werden. Bisher genossen beispielsweise Rentner und Kriegsveteranen, pensionierte Offiziere, Tschernobylopfer, Invaliden oder Helden der Arbeit Dutzende von Privilegien, dank derer sie trotz niedriger Löhne und Renten überleben konnten. Sie zahlten weder für Strom, Gas, noch Telefon, nutzten öffentliche Verkehrsmittel gratis und hatten Anspruch auf unentgeltliche medizinische Versorgung und Arzneimittel. Wer Stehvermögen oder gute Kontakte hatte, konnte auch mal einen kostenlosen Urlaub am Schwarzen Meer ergattern.

Bei weitem nicht alle verbrieften Ansprüche befriedigte der Staat indes. Gerade die kostenlose medizinische Versorgung ließ schon lange zu wünschen übrig. Dennoch fürchten die Menschen, die Abschaffung der Vergünstigungen werde ihre Lage weiter verschlechtern. Statt Sachleistungen erhält der Bürger nun einen monetären Gegenwert, der von rund 25 bis 100 Euro im Monat reicht. 61 Prozent der Russen, ermittelten Soziologen, sind misstrauisch. Sie glauben, der Staat wolle mit den Maßnahmen nur Geld sparen.

Für 2005 stellte der Etat 4,7 Milliarden Euro zur Verfügung, mit denen 33 Millionen Russen versorgt werden sollen. Nach Berechnungen des Gesundheits- und Sozialministeriums kamen bislang aber 103 Millionen in den Genuss einer Förderung. Insgesamt hatte der Staat Privilegien verteilt, die sich zu einem hypothetischen Wert von 180 Milliarden Euro summierten.

Der Kreml behauptet, die neue Regelung sei gerechter und effizienter. Die Menschen sehen das anders. Da die Zuwendungen keinen Inflationsausgleich vorsehen, könnten sie bald nicht einmal mehr für die Metrofahrkarte reichen. Zudem wird ein kostenpflichtiges Gesundheitswesen die Ausgaben in die Höhe treiben und Zahlungskräftige noch mehr bevorzugen.

Was ebenfalls beunruhigt: Die Verteilung der Barmittel fällt nun in die Zuständigkeit der regionalen Verwaltungen. Bedenken, das Geld werde vor Ort verschwinden, sind berechtigt. Die ärmeren Regionen sehen Verpflichtungen auf sich zukommen, die sie aus eigener Kraft gar nicht bewältigen können. Die Verwaltungschefs sollen daher gegen das Gesetz gewesen sein. Erst der Druck des Kreml, im Verweigerungsfall die Wiederwahl der Provinzfürsten zu verhindern, brachte sie zum Einlenken.

Die Mehrheit der Kreml-Einheitspartei „Einiges Russland“ wird die Reform in der Duma heute verabschieden. Die Abgeordneten hatten das 761 Seiten starke Gesetzesprojekt erst einen Tag vor der zweiten Lesung erhalten. Die Kremlpartei händigte ihren Mitgliedern aber einen kurzen Leitfaden mit Argumentationshilfen aus, wie verunsicherte Bürger zu beruhigen sind.

Wenn die Reform nicht greift, sieht Kremlberater Wjatscheslaw Nikonow Gefahren heraufziehen. „Putin gerät in große Schwierigkeiten, wenn die Unzufriedenheit wächst, und diese Gefahr besteht.“ Da das Ende der kommunistischen Wirtschaft Teil der Agenda sei, habe sich der Präsident indes auf das Wagnis eingelassen, seine Popularität zu opfern. Putin selbst hat sich seit Juni nicht zu den Reformen geäußert. Wenn es hart auf hart kommen sollte, trifft der Zorn ohnehin die willenlosen Handlanger der Macht in der Duma.

Von den Kürzungen ausgenommen sind die 1,7 Millionen Beamten. Sie behalten ihre kostenlosen Datschen, Dienstwagen, Gratis-Urlaube und anderen geldwerten Leistungen, die zigtausende Euros ausmachen.